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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Dementsprechend hatte sie begonnen, ihre Figuren auf dem Brett in Stellung zu bringen und Daniel herbeizuzitieren. Aber soviel Daniel wusste, lebten sowohl Anne als auch Sophie noch. Er war also bislang noch nicht einmal ein Bauer. Es wäre nicht nur sinnlos, sondern auch wichtigtuerisch, nach London zu eilen, solange er sich auf der Insel aufhielt und die Stadt kurzfristig erreichen konnte. Sinnvoller, sich Zeit zu lassen und sich besagte Insel anzuschauen, damit er besser verstand, wie die Dinge lagen, und, wenn es so weit war, ein kompetenterer Bauer sein würde. Durch die Fenster von Mr. Threaders Equipage betrachtete er ein Land, das ihm fast so fremd war wie Japan. Fremd ließen es ihm nicht nur Englands ungewohnter Friede und Wohlstand erscheinen. Es lag auch daran, dass er Orte sah, wohin Puritaner und Professoren nicht eingeladen wurden. Da Daniel diese Orte nie gesehen hatte, neigte er dazu, zu vergessen, dass es sie gab, und die Bedeutung der Leute, die sie bewohnten, zu vernachlässigen. Doch das war ein Fehler, der ihn zu einem höchst jämmerlichen und unbrauchbaren Bauern machen würde, wenn er ihn nicht behöbe; und schwache Bauern wurden in aller Regel schon früh im Spiel geopfert.
    Es folgte eine ein, zwei Tage währende, überraschende Warmwetterphase. Daniel machte sie sich zunutze, indem er jedes Mal aus der Kutsche ausstieg, wenn diese anhielt. Wurde er des Gehens müde, ließ er sich seinen dicken, mit Waschbärfell gefütterten Mantel bringen – er allein füllte eine Truhe – und auf dem feuchten Gras ausbreiten. Gras gab es immer, denn sie hielten immer an Orten mit Rasen, und es war immer kurz, denn es waren stets Schafe da. Auf diesem Viereck aus amerikanischem Waschbärfell saß er dann, las ein Buch oder aß einen Apfel oder lag in der Sonne auf dem Rücken und döste. Diese kleinen Picknicks ermöglichten es ihm, weitere Beobachtungen über Mr. Threaders Geschäftstätigkeit anzustellen, wenn es sich denn um eine solche handelte. Von Zeit zu Zeit erblickte er – durch das Fenster eines Herrenhauses, über einen ausgedehnten Rasen hinweg oder zwischen funkelnden Brunnenstrahlen hindurch – flüchtig Mr. Threader, wie er einem Herrn einen Zettel übergab oder umgekehrt. Sie sahen wie vollkommen gewöhnliche Zettel aus – nicht gestochen wie Noten der Bank von England und nicht mit schweren Siegeln versehen wie juristische Dokumente. Doch ihre Überreichung ging stets mit großer Höflichkeit und Ernsthaftigkeit vonstatten.
    Falls Kinder anwesend waren, folgten sie Mr. Threader überallhin und bauten sich jedes Mal, wenn er stehen blieb, mit erwartungsvollem Gesicht um ihn herum auf. Zunächst tat er stets so, als bemerkte er sie nicht. Dann plötzlich streckte er die Hand aus und zog einem der Kinder einen Penny aus dem Ohr. »Hast du den da gesucht? Dann nimm ihn – er gehört dir!«, sagte er und hielt ihn dem Kind hin, doch ehe dessen kleine Hand ihn schnappen konnte, verschwand der Penny auf ebenso mysteriöse Weise, wie er aufgetaucht war, und wurde einen Moment später im Maul eines Hundes oder unter einem Stein wiederentdeckt, nur um abermals zu verschwinden etc., etc. Mr. Threader versetzte die Kleinen in einen regelrechten Taumel von Vergnügen, ehe er schließlich jedem von ihnen einen Silberpenny schenkte. Daniel hasste sich selbst dafür, dass ihn das Schauspiel so faszinierte, wo er doch wusste, dass es sich um die billige Gaukelei eines Jahrmarktsschwindlers handelte, aber er konnte den Blick nicht davon abwenden. Wie nur, fragte er sich, konnten die reichen Eltern dieser Kinder einem Taschenspieler Geld anvertrauen – was sie ja offenbar taten?
    Einmal scharten sich auf einem Rasen, während er döste, von überallher Schafe um ihn, und das Geräusch ihres Grasens wurde zu einer Art Continuo seiner Träume. Er schlug die Augen auf und sah nur wenige Zoll von seinem Gesicht entfernt zwei Reihen stumpfer gelber Schafszähne am Gras rupfen. Diese Zähne und den Wust von Winterwolle, der das Tier in ein watschelndes, fettiges Bündel verwandelte, empfand er als höchst bemerkenswert. Dass ein Tier lediglich dadurch, dass es an der Sode knabberte und Wasser aufschlabberte, Materie wie Zähne und Wolle hervorbrachte!
    Wie viele Schafe gab es in England? Und zwar nicht nur im Januar 1714, sondern in all den Jahrtausenden zuvor? Warum war die Insel unter dem Gewicht von Schafknochen und Schafzähnen nicht im Meer versunken? Möglicherweise, weil die Wolle exportiert wurde

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