Pringle vermisst eine Leiche
Festkomitees
sind, was diesen Punkt betrifft, eindeutig: Niemand darf die Wandbilder vor der
öffentlichen Präsentation am Freitagnachmittag sehen.»
«Ich werde schweigen wie ein
Grab», versicherte Mr. Pringle feierlich.
«Und Sie, Mrs. Leveret?»
«Ich selbstverständlich auch.»
Sie schien ärgerlich über die Frage.
«Na schön. Dann kommen Sie doch
bitte.» Sie folgten ihm in die Kirche. Draußen waren die Frauen weiter damit
beschäftigt, den Volvo zu entladen.
«Ich denke, Sie beide werden
mir zustimmen, daß schon das eine Bild wirklich großartig ist», sagte der
Pfarrer. «Am Freitag, wenn wir sie dann alle zu Gesicht bekommen, werden wir
sicher hingerissen sein. Aber, wie gesagt, auch das eine Bild für sich genommen
ist schon außerordentlich bemerkenswert. Und jetzt bitte Vorsicht: Stufen!»
Mr. Pringle entsann sich, daß
die Kirche tiefer lag als das Dorf. Vier grob behauene Steinblöcke, jeder durch
die unzähligen Paar Füße, die im Laufe der Jahrhunderte über ihn hinweggegangen
waren, zur Mitte hin ausgetreten, führten ins Kirchenschiff. Mr. Pringle stieg
hinunter und sah sich um. Alles war genau wie in seiner Erinnerung.
In den Führern wurde die Kirche
gewöhnlich als «schlichtes Juwel» bezeichnet, und tatsächlich meinte Mr.
Pringle, nie in einem schmuckloseren Andachtsraum gewesen zu sein. Die Kirche
war im Innern kaum mehr als neun Meter lang. Seitlich war in Schulterhöhe eine
Reihe schmaler Nischen aus den dicken Mauern herausgehauen worden. Früher
hatten hier kleine Lampen gestanden, inzwischen spendeten elektrische
Glühbirnen Licht. Doch in der Mitte des Kirchenschiffs hing noch immer der alte
wagenradgroße eiserne Kronleuchter.
Der Raum hatte fünf Fenster,
alle aus farblosem Glas und so dick, daß es fast undurchsichtig war. Dicht an
der Wand, gleich unterhalb der Kanzel, schlief noch immer der junge
Kreuzfahrer, den Hund zu seinen Füßen.
Auf dem Altar in der Apsis standen
ein Kreuz und ein Kerzenleuchter, beide aus Messing. Das Lesepult weiter vorn
war mit einem goldbestickten Tuch bedeckt. Doch waren dies auch schon die
einzigen kostbaren Gegenstände in dem sonst mit äußerster Einfachheit
gestalteten Raum.
Nach dem Trauergottesdienst für
den Major hatte man die eichenen Kirchenbänke beiseite geschoben, um Platz zu
schaffen für die Vorbereitungen des Frauenvereins. Mr. Pringle blickte hinauf
zu den schweren hölzernen Bogenzwickeln. In vielen Kirchen wiesen sie Verzierungen
auf, hier trugen sie nur die Spuren der Breitaxt als Muster.
Über dem gewölbten Eingang zur
Apsis sah Mr. Pringle zwei Engel aus Holz, die zu seiner Zeit noch nicht dort
gehangen hatten. Da der Altarraum höher lag als das Kirchenschiff, mußte man
über drei Stufen zu ihm emporsteigen. Gleich unterhalb, rechts in der Wand,
befand sich, wie Mr. Pringle erst jetzt entdeckte, das Aussätzigenfenster.
Mr. Pringle mußte an die
körperlose Hand denken, die das Fenster erst geöffnet, dann wieder geschlossen
hatte. Wenn ihn nicht alles täuschte, so hatte an der Hand ein Ring geblitzt.
Die geheimnisvolle Person konnte demnach nicht der Pfarrer gewesen sein, denn
der trug keinen Ring, davon hatte sich Mr. Pringle eben durch einen schnellen
Blick überzeugt.
Ein etwas ungeduldiger Zuruf
beendete seine Überlegungen. Mrs. Leveret und der Pfarrer standen unter dem
vorschriftswidrig aufgedeckten Wandgemälde, und der Pfarrer hatte bereits eine
Ecke der schweren Holzabdeckung angehoben. Mr. Pringle eilte zu ihnen, um mit
anzufassen und wenigstens einen Moment lang das Bild zu betrachten, bevor es
wieder verschwand. Mrs. Leveret war zur Seite getreten, als er kam. Jetzt
blickte sie ihn neugierig an; offenbar war sie gespannt auf seine Reaktion.
Mr. Pringle warf einen Blick
auf das Bild und schrie entzückt auf. «Großer Gott!» Ein so außergewöhnliches
Kunstwerk hatte er nicht erwartet.
Hinter einer Plexiglasscheibe,
die das Bild schützen sollte, waren ein Adam und eine Eva zu sehen, die mit
großen, runden Augen auf die Schlange starrten, die sich lasziv im Apfelbaum
rekelte. Die sie umgebende Landschaft, ein idyllischer Garten Eden, vermittelte
mit ihren Feldern und Hecken, ihren Bäumen und Tieren ein Abbild des alten
Suffolk. Es gab wilde Eber und wollige, gehörnte Rinder, putzige Kaninchen und
buntgefiederte Hühner. Alle Tiere waren gleich groß. In der rechten unteren
Ecke lugte hinter einer aus Zweigen geflochtenen Hütte das flache, runde
Gesicht eines scharlachroten Teufels hervor,
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