Pringle vermisst eine Leiche
sie sieht viel älter aus, dachte er
befriedigt, und sie ist auch viel dicker. Viel Hintern, wenig Verstand,
ziemlich teure und sehr konservative Kleidung. Zu seiner Zeit hatte es in
Wuffinge keine reichen Leute gegeben. Das mochte erklären, wieso Doris Leveret
es sich erlauben konnte, sich so herrisch aufzuführen. Mr. Pringle hatte den
Verdacht, daß sie eine richtige Tyrannin war.
«Zuerst die Böcke bitte, Mr.
Pringle, dann die Platten. Eine meiner Damen wird Ihnen beim Tragen helfen,
Ruby kann sie dann abwischen. Wir können die Blumendekoration erst aufbauen, wenn
alle acht Tische stehen.»
Um vier Uhr kam der Pfarrer mit
einer Thermoskanne Tee und Keksen und forderte sie auf, Pause zu machen. Mr.
Pringle sank erschöpft auf eine Kirchenbank. Sein Hemd war schweißnaß, die Arme
schmerzten. Er sehnte sich nach einem heißen Bad, um die gepeinigten Muskeln zu
entspannen. Trotz dieser Beschwerden bereitete es ihm jedoch großes Vergnügen
zu beobachten, wie sich selbst während der kurzen, improvisierten Teepause alle
strikt gemäß einer ungeschriebenen Rangordnung verhielten.
So erhielt Doris Leveret, da
sie die besterhaltene der georgianischen Villen ihr eigen nannte, eine Tasse
mit Untertasse. Lorna und Felicity, die beide in kleinen Landhäusern mit
Strohdach wohnten, bekamen jede einen ziemlich hübschen Steingutbecher. Die
stets etwas atemlose, pummelige Joyce, deren schmuckloses Haus erst Anfang des
Jahrhunderts gebaut worden war, und Michelle und Tracy, zwei Hausfrauen aus
Reynard’s Covert mußten sich mit angeschlagenen Porzellantassen begnügen, und
für Ruby, die mit ihrer Familie in einem der gemeindeeigenen Doppelhäuser
wohnte und infolgedessen nach einhelliger Meinung in der Hierarchie ganz unten
rangierte, blieb nur ein Plastikbecher. Das hieß nicht, daß man Ruby nicht
freundlich behandelt hätte. Besonders Doris Leveret gab sich ihr gegenüber
betont herzlich. Ausgerechnet sie war im übrigen die einzige, die sich mit der
Bemerkung «Das hält die Kälte außen vor» gleich mehrere Löffel Zucker in den
Tee schaufelte. Warum, dachte Mr. Pringle kopfschüttelnd, sind gerade die
Frauen, die ohnehin schon so viele Fettpolster haben, daß sie selbst einem
arktischen Winter trotzen könnten, so hemmungslos zuckersüchtig? Eine Stimme
neben ihm schreckte ihn aus seinen Gedanken. Es war Michelle.
«Wie bitte?» fragte er
verwirrt.
«Ich würde gerne wissen, ob Sie
hier alte Bekannte wiedergetroffen haben», wiederholte sie.
«Nur die kleine Elsie aus
Nummer acht.»
Es war, als hätte er einen
obszönen Ausdruck gebraucht. Die Mienen der Frauen wurden eisig. Mr. Pringle
sah, wie der Pfarrer nur mühsam ein Lachen unterdrückte. Doris Leveret
erkundigte sich mit gezwungenem Lächeln: «Und wie haben Sie ihre Bekanntschaft
gemacht?»
«Ich glaube, in der Schule. So
genau weiß ich das nicht mehr. Heute morgen nach dem Unfall hat sie mich
freundlicherweise zu sich hereingebeten und mir einen Tee angeboten.» Er hatte
wieder etwas Falsches gesagt.
«So, sie hat Sie
hereingebeten», sagte Doris Leveret spitz, «das überrascht mich nicht.»
Anscheinend waren Elsies diesbezügliche Gepflogenheiten allgemein bekannt.
Zwar war man in einem
christlichen Gotteshaus zusammengekommen, doch offenbar fand sich niemand, der
seine Stimme zur Verteidigung der armen Sünderin erhoben hätte. Mr. Pringle
hatte, was ihn selbst anging, das Gefühl, ohnehin nicht mehr viel verderben zu
können.
«Waren Sie nicht sogar mit
Elsie in einer Klasse, Mrs. Leveret?»
«Ich bin, nachdem ich das
Stipendium bekommen hatte, auf das Gymnasium nach Ely gegangen, und seitdem
habe ich sie so gut wie nicht mehr gesehen», antwortete Mrs. Leveret kühl.
Fünfzig Jahre in demselben kleinen Ort, und kaum gesehen? dachte Mr. Pringle
zweifelnd. Aber vielleicht hatte ja Mrs. Leveret nicht die ganze Zeit hier
gelebt.
«Aber später war Elsie dann,
glaube ich, mit Ihrem Bruder in einer Klasse, oder?»
Ruby fing lauthals an zu
lachen. «Falls das zutrifft, so wird er das bestimmt abstreiten. Keiner hier
will sie kennen. Dabei kann die arme alte Elsie doch nichts dafür, daß sie so
ist, wie sie ist. Oder was meinen Sie, Herr Pfarrer?» Zum Glück gab es in
diesem Moment eine Ablenkung. Eine hochgewachsene Frau mittleren Alters schritt
energisch auf die Gruppe zu und blieb dann, beide Arme in die Hüften gestemmt,
direkt vor Doris Leveret stehen. Mr. Pringle wußte, auch ohne daß es ihm jemand
gesagt hatte, sofort, daß dies
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