Prinz-Albrecht-Straße
unter denen einer ausröchelte. Entsetzt starrte Rosenstein in das tote Gesicht eines blutjungen Burschen.
Dann sah er die Maschinenpistole, riß sie an sich, rappelte sich hoch und rotzte das ganze Magazin gegen die Angreifer, bis er selbst umgeschleudert wurde.
Schlußphase. Menschliche Knäuel wälzten sich am Boden. Die Scheinwerfer kamen näher. Kommandos schwirrten durcheinander. Der letzte Widerstand wurde gebrochen. Die Mörder gaben es auf, polnisch zu reden. Ein Schuß. Wieder einer. Ein letzter Schrei.
Ein Stiefel wuchtete über Rosensteins Magen, zog weiter. Zwei Meter neben ihm lag ein Kamerad aus der gleichen Baracke. Verwundet. Er hob den Arm. Sein Gesicht war zu einem letzten Flehen verzerrt. Und die Augen: groß, bittend, winselnd …
Der Achtzehnjährige, der vor ihm stand, zögerte. Hinter ihn trat der Hauptsturmführer. »Los!« brüllte er den blutjungen SS-Soldaten in polnischer Uniform an, »mach ihn schon fertig, du feige Sau!«
Herbert Rosenstein schloß die Augen, wartete, horchte. Auf den Schuß. Auf den Schlag. Blut lief ihm über das Gesicht. Stiche im Arm, im Bein, Fieber. Gleich, dachte der Häftling. Sein Bewußtsein schlummerte wie unter einer Decke. Gleich habe ich es geschafft. Und er wunderte sich, wie unendlich langsam selbst noch ein gequältes, zerschlagenes, gemartertes Hundeleben zu Ende geht …
74
Null Uhr drei. Das Gemetzel am Waldrand verebbte. Die Schüsse fielen einsamer. Die Mörder in polnischer Uniform hatten nur noch die Aufräumarbeiten vor sich. Den Fangschuß. Die Aufgabe, das Wiesenstück wirkungsvoll mit Leichen zu drapieren.
Die Prinz-Albrecht-Straße wartete auf die Vollzugsmeldung. Heydrich telefonierte mit Himmler. Himmler mit Hitler. Der Führer gab den Einmarschbefehl nach Polen. In vier Stunden sollten seine Panzer rollen. Das OKW hatte die Pläne ausgearbeitet. Der Feldzug war auf höchstens vier Wochen angelegt. Unter dem Oberbefehl eines dilettantischen Gefreiten funktionierten tüchtige Generäle, die sich nach Kriegsende auf ihren Haß gegen den Mann berufen würden, dem sie ihre blechernen Orden ebenso verdankten wie die Gelegenheit, den Heldentod der anderen zu verherrlichen, dem sie so erfolgreich aus dem Wege gegangen waren. Schneidige Strategen der Soldaten-Treffen oder sogar würdige Gutachter der Standgerichts-Prozesse. In jedem Fall Empfänger lukrativer Pensionen …
Die Nacht war schwül. Millionen konnten nicht schlafen. Lebensmittelkarten waren ausgegeben worden. Selbst Phantasten setzten nicht mehr auf den Frieden. Die Hoffnung erschöpfte sich in dem Wahn, daß der Krieg kurz sein würde …
In ihrer Berliner Villa stand Margot Lehndorff am Fenster und starrte in die Nacht. Trotz der Schwüle fröstelte sie. Die Kälte war mit den letzten Nachrichten gekommen: polnischer Überfall auf den Reichssender Gleiwitz.
Aus dieser oberschlesischen Stadt hatte sie vor einigen Tagen der Anruf Werner Stahmers erreicht. Das junge, hübsche Mädchen ahnte die Zusammenhänge, wollte nicht über sie nachdenken, konnte die bleischwere Gewißheit, daß er in diese Sache verwickelt war, nicht abschütteln. Margot war daran gewöhnt, aus den Gesprächen mit Werner das herauszuhören, was ungesagt bleiben mußte.
Wie soll das weitergehen? fragte sie sich immer wieder. Und sie erhielt nie eine Antwort. Durchhalten, befahl sie sich. Sie versteckte ihre nassen Augen vor Werner Stahmer, so gut es ging. Aber wenn sie allein war, rissen die Nerven an ihren Gefühlen. War das alles noch wirklich? Hatte die Vergangenheit noch eine Zukunft? Hatte es noch einen Sinn, bei Werner Stahmer auszuhalten, der eines Tages an dem Gewerbe zugrunde gehen mußte, dem er sich verschrieben hatte?
Wieder schrieb Margot in Gedanken an einem Abschiedsbrief, den sie nie absenden würde. Sie hatte in diesen Minuten am Fenster keine Vorstellung, wie lange das schon ging, wie weit der Tag zurücklag, an dem sie Werner kennengelernt hatte. Ein junges, unbeschwertes Mädchen, ›eines Vaters Tochter‹, die ›eines Mannes Frau‹ werden wollte. Sie hatte mit ihm gespielt, seinen Charme mit Spott abgetan, seine Zurückhaltung als Trick entlarvt, seine Hände für brutal gehalten; bis sie sich bei der Frage überraschte, ob sie auch zärtlich sein konnten; bis sie begriff, daß es zu spät war, sich von ihm freizumachen.
Mitten in der Nacht klingelte es. Im ersten Moment war Margot mehr verwundert als erschrocken. Sie sah vom Fenster aus die Gestalten. Es waren zwei
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