Prinz-Albrecht-Straße
Hand. Mordbefehl im Kopf. Schnaps im Magen. Plötzlich lag der Fleck auf der Wiese, an dem man hundert Menschen zusammenpferchte, im Schnittpunkt zweier Scheinwerfer. Massenvernichtung mit Festbeleuchtung …
In den nächsten, endlos sich dehnenden Sekunden starben hundert Menschen, bevor sie noch von den Kugeln getroffen und von den Gewehrkolben erschlagen wurden. Die ewige Frage: Was wird aus uns? ging in diesen letzten, beschleunigten Herzschlägen unter. Hundert Todeskandidaten wußten, warum sie in den letzten Wochen statt Prügeln Schokolade und statt Fußtritten Sonderverpflegung erhalten hatten. Sie starrten in die Nacht, aus der ihr Ende kam. Ihr Bewacher, der SS-Hauptsturmführer, brüllte, noch bevor man die näherkommenden Schemen erkennen konnte: »Das sind Polacken … schlagt sie tot!«
Dann sprang er auf, gefolgt von ein paar Leuten; er wollte dem Lichtkegel entkommen, um nicht im Feuer der eigenen SS-Leute liegenzubleiben. Der Strahl folgte ihm zitternd, fast lässig.
»Ich doch nicht!« stöhnte der SS-Offizier vor sich hin. »Ich gehör' doch nicht zu denen … Paßt doch auf, ihr Vollidioten!«
Dann ratterten Maschinengewehre. Die erste Garbe schon durchlöcherte ihn wie ein Sieb. Auch die Leute hinter ihm fielen, ohne wieder aufzustehen. Die Mörder auf der anderen Seite haben präzise Befehle: Keiner darf entkommen. Nicht ein einziger! Zuerst werden die Flüchtenden zusammengeschossen. Der Rest ist im Nahkampf zu erledigen.
Die ersten SD-Schüler in polnischen Uniformen waren bis auf fünfzig Meter herangekommen. Die Seitengewehre auf ihren Karabinern schimmerten fahl im blassen Mondlicht. Irgendwo weiter östlich spiegelte sich Feuerschein am Himmel, nicht größer als ein glühendes Fünfmarkstück; das deutsche Zollhaus Dreilinden, das sie vorhin auf Befehl der Prinz-Albrecht-Straße in Brand gelegt hatten.
Nun kam der zweite Teil des Auftrages, der schwierigere. Die Theorie beherrschten sie. Aber die Ermordung Wehrloser mußten sie noch erlernen. Sie wußten noch nicht, wie ein Seitengewehr knirscht, wenn es auf Knochen stößt; und nicht, wie Augen im Angesicht des Todes bettelten, bevor sie brechen. Sie waren reguläre, wenn auch verhetzte SS-Soldaten, junge Burschen noch, voller Glauben, voller Entsetzen. Sie hatten noch fünf oder acht Sekunden Zeit, um zu Verbrechern zu werden. Die jungen SD-Schüler schämten sich noch ihres Gewissens.
So kamen sie fast zögernd näher, umspannten ihre Karabiner so verkrampft, als wollten sie sich an ihnen festhalten. Dann krepierte die erste Handgranate. Der Kompaniechef hatte sie geworfen. Die ›Konserven‹ feuerten zurück. Mit Platzpatronen …
Sie bemerkten es nicht. Nicht im ersten Moment. Wenn sie Glück hatten, gingen sie im zweiten drauf. Wenn nicht, lebten sie noch fünf Minuten oder acht …
Ein paar sprangen auf, hetzten planlos davon. Eine Maschinenpistole mähte sie um. Aus nächster Entfernung. Dann gingen die Männer in polnischen Uniformen mit dem Seitengewehr vor. Die MGs hatten Feuerpause. Handgranaten durften nicht mehr geworfen werden. Verwechslungen waren auszuschließen. Soweit wie möglich. Der Kompaniechef schlug mit dem Spaten zu. Das Blatt war scharfgeschliffen wie ein Bajonett.
Weiter, vorwärts, quer über die Leichen, über die Verwundeten, durch die Schreie, durch das Gewimmer. Zielen – abdrücken. Ausholen – zuschlagen. Sehen – töten. Keine Zeugen, keine Überlebenden! Die ›Aktion Himmler‹ befahl den perfekten Mord. Eine Kompanie gut ausgebildeter SD-Leute gegen wehrlose ›Konserven‹. Der Zynismus war perfekt: sonst konserviert man tote Ware für die Lebenden; hier hob man Lebende für den Tod auf. Für die erste Schlacht des Zweiten Weltkriegs. Um den Kriegsgrund zu schaffen. Hier auf dieser Wiese, am Waldrand nächst der polnischen Grenze, machte Adolf Hitler Geschichte.
Aber langsam! Der Tod war grausig, und er war auch vielgestaltig. Es gab solche, die still dalagen und auf die Kugel warteten. Andere, die aufsprangen, um den Feuerstoß auf sich zu ziehen. Und eine Gruppe, die sich in der Todesangst ermannte, hochsprang, mit dem Gewehrkolben um sich schlagend, und ihr Leben so teuer verkaufte, wie es ging.
Herbert Rosenstein wälzte sich am Boden. Seine Hände preßten sich um die Kehle eines SS-Mannes, der in der Dunkelheit über ihn gefallen war. Was der Häftling in den letzten Jahren mitgemacht hatte, seine Angst, sein Haß, sein Wille zum Leben, lag in der Kraft seiner Finger,
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