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Prinz-Albrecht-Straße

Prinz-Albrecht-Straße

Titel: Prinz-Albrecht-Straße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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am Mikrophon sprach schnell und deutlich, in einer Sprache, die wie eine Zündschnur zischte. Erst am Schluß kamen ein paar Sätze in gebrochenem Deutsch, es folgten wieder Schüsse, und dann blieb es zwei, drei Minuten lang still im Äther. Schließlich sagte eine ungewohnte, schrille Stimme: »Der Reichssender Gleiwitz muß aus technischen Gründen vorübergehend abschalten.«
    Heydrich lächelte, Werner Stahmer hatte funktioniert. Wie immer. Der erste Teil des blutigen Programms war planmäßig abgespult, nun hatte die Propaganda das Wort. Mit den Spätnachrichten kam die erste Durchsage:
    »Während sich der Führer verzweifelt bemüht, der Welt den Frieden zu erhalten, haben heute abend polnische Insurgenten in der Nähe von Gleiwitz das deutsche Reichsgebiet illegal überschritten und ihren bisher frechsten Überfall verübt. Es gelang ihnen, vorübergehend den Sender Gleiwitz zu besetzen. Die polnischen Aufständischen gerieten in einen Feuerwechsel mit der deutschen Polizei. Es gab Tote auf beiden Seiten … Hier sind alle deutschen Sender; wir setzen unser Programm fort.«
    Nur ein paar Menschen außerhalb des Raumes, in dem die nächtliche Besprechung stattfand, kannten den wahren Attentäter.
    »Geben Sie mir das Polizeipräsidium Gleiwitz«, sagte Heydrich. Er wollte die blutige Komödie so echt wie möglich weiterspielen.
    Ein Major der Schutzpolizei war am Apparat.
    »Was ist das für eine Sauerei!« schrie Heydrich. »Haben Sie die Leute schon gefaßt?«
    »Nein«, erwiderte der Major, »das heißt, einen haben wir, aber der ist tot.«
    »Identität?«
    »Unbekannt. Obergruppenführer … aber der Mann ist einwandfrei Pole.«
    »Gut«, versetzte der Chef des RSHA, »und was haben Sie weiter veranlaßt?«
    »Die ganze Stadt ist abgesperrt. Kein Mensch kann hinauskommen. Wir werden diese Burschen fassen.«
    »Hören Sie«, erwiderte Heydrich barsch, »ich muß sie haben … lebend. Wir müssen sie der Welt vorführen, verstanden?«
    »Jawohl, Obergruppenführer.«
    Heydrich hängte ein. Seine Männer lächelten. Sie wußten alle, daß Stahmer längst entkommen war. Seine Leute auch. Sie hatten Gleiwitz verlassen, bevor noch der Polizeichef die Sperre verfügen konnte. Die Kriminalpolizei mußte auf Befehl Heydrichs noch wochenlang Ermittlungen weiterführen, die weder ein Ergebnis hatten noch eins haben sollten.
    »So«, sagte Heydrich, »und jetzt Oppeln.«
    Blitzgespräch mit Gestapo-Müller.
    »Die Leute sind schon unterwegs«, sagte Müller so beflissen wie ängstlich.
    »Gut«, erwiderte Heydrich, »ich warte auf die Vollzugsmeldung.« Er rieb sich die Hände. Der Führer konnte mit ihm zufrieden sein. Der Kriegsgrund war da, pünktlich geliefert, frei Reichstag, wo Hitler mit rollender Stimme am nächsten Tag verkünden würde: »Polen hat heute nacht zum erstenmal auf unserem eigenen Territorium auch auf reguläre Soldaten geschossen. Seit fünf Uhr fünfundvierzig wird jetzt zurückgeschossen. Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten …«
    Und so begann mit einem zynischen Gangsterstück der Weg in Deutschlands gewaltigste Niederlage.

72
    Der Atem der Nacht war glühend heiß. Die abgemähten Getreidefelder wirkten in dem spärlichen Mondlicht seltsam fahl. Tausende von Menschen lagen auf engem Raum und blickten nach oben. Mochten sie den Großen Bären kennen, den Polarstern oder die Milchstraße: diese Nacht hatte keine Sterne. Sie waren Millionen von Lichtjahren von den Männern in Uniform entfernt, und wieder weit über ihnen, irgendwo im All, war Gott. Für das System eine überlebte Legende, ein alter Mann, zu dem die Geschoßbahnen der MGs nicht hinreichten, einer, dem Heydrich mit dem Stiefelabsatz ins Gesicht trat. Ungestraft. Vorläufig …
    Die Männer gingen im Gänsemarsch. »Ohne Tritt«, befahl ihr Anführer in der gleichen Sprache, in der vor Stunden eine Proklamation im Reichssender Gleiwitz verlesen wurde. Unbewußt verfiel die Gespenstereinheit in gleichen Schritt und Tritt. Seitengewehre schepperten, Lederzeug scheuerte, Gewehrschäfte schlugen gegen Rücken. In den Feldflaschen gluckste Schnaps.
    Keiner sagte ein Wort. Alle sahen nach vorn. Das Ziel war erreicht. Vorläufig. Gestapo-Müller hatte sein Mordprogramm um einen Punkt erweitert. Bevor die ›Konserven‹ geschlachtet wurden, war noch das deutsche Zollhaus in Dreilinden niederzubrennen. Die hinteren trugen Kanister mit Phosphor. Die Kolonne hielt. Der Kompaniechef ging mit einem Mann nach vorn, er

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