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Prinz-Albrecht-Straße

Prinz-Albrecht-Straße

Titel: Prinz-Albrecht-Straße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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preßte das Glas an die Augen. Zweihundert Meter, ganz einfach.
    »Ausschwärmen«, sagte er auf polnisch.
    Von drei Seiten gleichzeitig, Gewehr in Anschlag, gingen die Männer in polnischen Uniformen auf das Haus zu. Ein Hund schlug an. Ein Mann streckte den Kopf aus dem Fenster. »Wer ist da?« schrie er. »Ist etwas los?«
    »Feuer«, rief der Kompaniechef auf polnisch.
    Die Nacht wurde von Hunderten von Schüssen zerrissen. Noch feuerten die Männer in die Luft. Auf Befehl. Der Zollbeamte flüchtete. Eine Frau und ein Kind liefen wie gehetzt ins Dunkel. Von der anderen Seite her zitterte ein Scheinwerfer über die Grenze.
    »Los, schnell«, befahl der Anführer.
    Sie leerten die Kanister auf den Boden. Sekunden später brannte das Haus. Haushohe Flammen leckten bizarre Löcher in die Nacht.
    »Einstellen«, rief der Kompaniechef. Im Laufschritt zogen sie sich zurück in das Wäldchen, im Halbkreis zu dem anderen Ziel.
    »Durchladen«, kam das Kommando. Diesmal würden die Gewehre nicht in die Luft feuern. Über Kimme und Korn war das Ziel aus Fleisch und Blut anzuvisieren …
    Im ersten Moment glaubte der Gendarm, einen Betrunkenen vor sich zu haben. Der Bauer Friedrich Holzmann war von dem Spuk noch so verwirrt, daß er nicht zusammenhängend sprechen konnte. Dann begriff der Polizist. Der Mann, der ihn aus dem Bett geholt hatte, wollte eine ganze Einheit polnischer Soldaten gesehen haben. Auf deutschem Gebiet. Unfaßbar! Aber der Beamte ging ans Telefon und verständigte seine vorgesetzte Dienststelle.
    Dann holte er das Krad aus dem Schuppen. Der Bauer setzte sich auf den Soziussattel. Das Motorrad war kurze Zeit später schon am Ziel, dem Polizeipräsidium in Oppeln. Umständliche Vernehmung. Was zu tun war, wußte keiner. Die einen hielten den Bauern für verrückt, und die anderen trauten den Polen alles zu. Irgendwo im Haus saß der Beamte aus Berlin. Ein hohes Tier von der Gestapo, dessen Namen keiner kannte. Sicherheitshalber setzte sich der Polizeichef mit ihm in Verbindung.
    »Herkommen«, befahl Müller.
    Zuerst erschrak der Zeuge, als er Müller sah, der am Fenster stand und hinaussah. Der oberste KZ-Bewacher hatte von hinten den kahlen Kopf eines KZ-Häftlings.
    Müller drehte sich langsam um. »Polacken haben Sie gesehen?« fragte er.
    »Ja«, antwortete der Bauer schwerfällig.
    »Wo?«
    Der Zeuge nannte umständlich die Stelle.
    »Ich kann's nicht glauben«, sagte Müller zu dem Polizeichef, »aber fertigen Sie für alle Fälle ein Protokoll an.« Er ging wieder ans Fenster und lächelte. Der Zufall hatte ihm einen echten Zeugen beschert.
    Der Bauer Holzmann war für die ›Aktion Himmler‹ unbezahlbar.

73
    Herbert Rosenstein war zur Wache eingeteilt. Die seltsame Einheit hatte auf der Wiese wieder Stellung bezogen. Der KZ-Häftling in SS-Uniform stand rund fünfzig Meter vor seinen Kameraden und starrte in die Nacht. Zerstreut. Mit den Gedanken bei Maria, die jetzt schon schlafen mußte. Endlich kam eine leichte Brise. Blätter raschelten. Es hörte sich an wie Flüstern. Oder war es Flüstern?
    Unsinn, dachte Herbert Rosenstein, der tägliche Umgang mit der Angst zaubert Spukgestalten. Schattengewächse der Finsternis … wie da drüben am Waldrand, der sich plötzlich zu bewegen schien.
    Nein, dachte Rosenstein betroffen. Sein Instinkt war hellwach. Die Schatten teilten sich nach allen Seiten. Verwuchsen mit dem Boden. Standen wieder auf, kamen näher, kriechend und robbend. Zwanzig, dreißig, vierzig, ein ganzes Rudel. Nachtschwarz und gierig. Vorn, rechts, links, in der Mitte, einer hob den Arm, die anderen schlossen auf.
    Rosenstein spürte die Zunge wie ein Stück Leder im Mund. Sein Hals war wie gewürgt, seine Stirn schweißnaß. Er zögerte keine Sekunde mehr.
    »Alarm!« geisterte seine Stimme laut und verloren über die Wiese. Die Kameraden fuhren schlaftrunken hoch.
    In der nächsten Sekunde begann das Massaker ohne Beispiel …
    Der entmenschte Schrei ging durch Mark und Bein, heulte über die Wiese, brach sich am Waldrand, kam als vielfaches Geisterecho zurück, riß Menschen aus ärmlichem Schlaf, zertrümmerte ihre Träume, zersägte ihr Bewußtsein, fraß ihre Nerven, saugte sich in ihren Poren fest.
    »A-larm!« brüllte Herbert Rosenstein wieder und wieder und warf sich auf die Erde. Seine Kameraden taumelten hoch, stürzten an die Gewehrpyramiden, gingen in Deckung, suchten die Schatten, die lautlos und gemächlich näher kamen. Gewehr im Anschlag. Handgranate in der

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