Prinz Charming
Kummer ihrer Enkelin nicht zu bemerken und erklärte, sie habe Geld auf eine Bostoner Bank überweisen lassen. Ihre Stimme klang immer schwächer und müder. »Sobald Sir Elliott zurückkehrt, wird er bekanntgeben, mein Zustand habe sich wie durch ein Wunder gebessert. Er mag ein Dummkopf sein, aber er weiß, wer sein Brot mit Butter bestreicht. Heute abend besuchst du den Ball, amüsierst dich, als wäre alles in bester Ordnung, und feierst meine Genesung. Um Mitternacht verläßt du das Fest. Niemand darf wissen, daß du im Morgengrauen wegfahren wirst.«
»Soll ich nicht bei dir bleiben - wo du doch so krank bist?«
»Nein. Wenn ich sterbe, darfst du dich nicht mehr in England aufhalten. Während der letzten Stunden wird mir mein Bruder Andrew Gesellschaft leisten. Malcolm und den anderen wird man erst nach deiner Abreise mitteilen, daß du an Bord eines Schiffs gegangen bist. Versprich mir, meine Anweisungen zu befolgen, mein Kind. Es ist deine Pflicht, mir einen friedlichen Tod zu ermöglichen.«
»Ja, Großmutter...« Ein Schluchzen drohte Taylors Kehle zuzuschnüren.
»Weinst du?«
»Nein.«
»Ich verabscheue Tränen.«
»Das weiß ich.«
Lady Esther seufzte erleichtert. »Natürlich war es mühsam, den richtigen Mann zu finden. Jetzt muß nur mehr ein Dokument unterschrieben und eine Zeremonie durchgeführt werden, dann kann ich in Ruhe sterben.«
»Aber ich will nicht, daß du mich verläßt...«
»Die Dinge entwickeln sich nicht immer so, wie man’s möchte, mein Kind. Sag Thomas, er soll die Gäste holen, die er in meinem Privatsalon versteckt hat. Und dann stell dich neben mein Bett. Ich will sehen, wie du das Papier unterzeichnest, ehe ich’s beglaubige. Beeil dich! Die Zeit verrinnt, und sie ist meine Feindin.«
Gehorsam erhob sich Taylor und ging zur Tür, die das Schlafzimmer mit dem Salon verband. Dann blieb sie plötzlich stehen. »Großmutter ...«
»Ja?«
»Bevor Thomas die anderen hereinführt ... Wir werden nicht mehr allein sein. Darf ich ...« Mehr sagte sie nicht, denn sie wußte, daß die alte Frau verstand, worum sie gebeten wurde.
»Wenn’s unbedingt sein muß«, murrte die alte Frau.
»Danke. O Großmutter, ich wollte dir nur versichern, wie sehr ich dich liebe.«
Er konnte nicht glauben, was er getan hatte. Angewidert schüttelte er den Kopf. Verdammt, welch ein Mann würde von seinem Bruder verlangen, die Freiheit eines anderen Bruders zu erkaufen, überlegte er. Nur ein Bastard ...
Doch dann zwang sich Lucas Michael Ross, seine wütenden Gedanken zu verdrängen. Immerhin war der Junge jetzt imstande, ein neues Leben zu beginnen. Nur darauf kam es an. Und der schurkische Erbe des Familienvermögens würde seine gerechte Strafe erhalten.
Aber so sehr Lucas sich auch bemühte, an andere Dinge zu denken - der Zorn gegen seinen älteren Halbbruder wollte nicht verfliegen. Er lehnte an einer Säule in einem Alkoven des majestätischen Ballsaals und beobachtete die Tanzpaare, die über den Marmorboden wirbelten.
Rechts und links von ihm standen die Freunde seines Bruders, Morris und Hampton, beide von Adel, doch er erinnerte sich nicht an ihre Titel. Hitzig debattierten sie über die Vor- und Nachteile des amerikanischen Kapitalismus. Lucas heuchelte Interesse und nickte, wann immer es ihm angemessen erschien, hörte aber kaum zu. Dies war seine letzte Nacht in England, und er wollte den Abend nicht genießen, sondern beenden.
Dieses öde Land mißfiel ihm. Nach all den Jahren in der amerikanischen Wildnis verstand er nicht, warum irgend jemand freiwillig hier in diesem seltsamen Königreich lebte. Er fand die Einwohner genauso protzig wie ihre Politiker und ihre Gebäude. Und die Luft war zum Ersticken. Wie er diese beengte Atmosphäre haßte, die zahllosen qualmenden Schornsteine, die grauschwarzen Wolken über der Stadt, die grellgekleideten Frauen, die dünkelhaften Männer ...
In London kam er sich vor wie in einem Käfig. Plötzlich mußte er an einen Tanzbären denken, den er als kleiner Junge auf einem Jahrmarkt außerhalb von Cincinnati gesehen hatte. Das Tier, mit einer bunten Hose bekleidet, war von seinem Besitzer an einer langen Kette festgehalten worden und um ihn herumgetappt.
Daran fühlte Lucas sich erinnert, während er den tanzenden Ballbesuchern zuschaute. Ihre Bewegungen wirkten ruckartig und unnatürlich. Farblich unterschieden sich die Frauenkleider, im Stil ähnelten sie einander. Und alle Männer trugen die gleiche formelle schwarze Uniform.
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