Prinz Charming
erlosch, während die alte Dame den gräßlichen Brief vorlas, den sie erhalten hatte. »Danke, daß du mich informiert hast, Großmutter. Das ist dir sicher nicht leichtgefallen.«
»Du solltest London verlassen und abwarten, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Gewiß wird sich Onkel Andrew über deine Gesellschaft freuen.«
»Wie du wünschst.« Taylor eilte nach oben, packte mit der Hilfe eines Dienstmädchens ihre Sachen, und eine knappe Stunde später reiste sie nach Schottland, aufs Landgut ihrer Großmutter.
Während der Abwesenheit ihrer Enkelin war Lady Esther nicht untätig gewesen und hatte lange Gespräche mit ihren Anwälten geführt.
»Ihre Großmutter freut sich sehr, Sie wiederzusehen, Lady Taylor«, beteuerte Thomas nun. »Seit sie neulich den geheimnisvollen Brief bekam, regt sie sich furchtbar auf. Wahrscheinlich hofft sie, Sie würden wissen, was zu tun ist.«
Taylor folgte ihm zur Treppe. »Hat sich ihr Zustand nicht gebessert?« fragte sie angstvoll.
Mitfühlend tätschelte er ihre Hand. Wie gern hätte er sie belogen... Aber sie verdiente es, die Wahrheit zu hören.
»Diesmal wird sie sich nicht erholen, und es ist an der Zeit, Abschied zu nehmen. Jetzt sollten wir sie nicht länger warten lassen.«
»Nein, natürlich nicht.« Tränen brannten in ihren Augen, doch sie kämpfte entschlossen dagegen an. Ihre Großmutter durfte sie nicht weinen sehen.
»Sie haben sich doch nicht anders besonnen, was Lady Esthers Pläne betrifft, Mylady?«
Taylor zwang sich zu einem Lächeln und schüttelte den Kopf. »Um die Wünsche meiner Großmutter zu realisieren, würde ich alles tun. Vor ihrem Tod möchte sie alles regeln, und es ist meine Pflicht, ihr dabei zu helfen.« Lautes Gelächter drang aus dem Salon, und als sie sich umdrehte, sah sie zwei schwarzgekleidete Gestalten, Champagnergläser in den Händen, durch die Halle schlendern. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß das Haus voller Gäste war. »Was machen all diese Leute hier, Tom?«
»Oh, die wollen mit Ihrem Onkel Malcolm und Ihrer Kusine Jane die Erbschaft feiern. Der Graf hat einige Freunde eingeladen.«
»Wie unverschämt!« fauchte sie erbost. »Dieser Mann besitzt wohl keine einzige erfreuliche Eigenschaft.«
»Offensichtlich nicht. All die guten Wesenszüge scheint Ihr Vater geerbt zu haben, Gott sei seiner Seele gnädig. Während Ihr Onkel und seine Tochter...« Thomas seufzte tief auf. Als sie sich zur Salontür wandte, hielt er sie hastig zurück. »Da drin sind Malcolm und Jane, Mylady. Wenn die beiden Sie sehen, machen sie Ihnen sicher eine unangenehme Szene. Ich weiß, Sie wollen die Besucher hinausjagen. Aber dafür haben wir keine Zeit. Ihre Großmutter wartet.«
»Ja, natürlich.« Taylor stieg mit ihm die Treppe hinauf. »Was sagt der Arzt über ihr Befinden? Vielleicht gelingt es ihr wieder einmal, uns alle zu überraschen?«
»Leider nicht. Sir Elliott meinte, es sei nur noch eine Frage der Zeit, und Lady Esthers Herz habe keine Kraft mehr. Er verständigte den Grafen, und deshalb sind jetzt alle hier versammelt. Darüber ärgerte sich Ihre Großmutter maßlos, und die Vorwürfe, die sie dem Doktor machte, müßten ihm immer noch in den Ohren dröhnen. Ein Wunder, daß er nicht selber einen Herzanfall bekam!«
Als Taylor sich vorstellte, wie ihre Großmutter den hochgewachsenen, breitschultrigen Elliott angeherrscht hatte, mußte sie lächeln. »Eine erstaunliche Frau ...«
»Allerdings. Die größten, stärksten Männern kann sie das Fürchten lehren, ohne die Stimme zu erheben. Hätten Sie bloß Sir Elliotts Gesicht gesehen, als sie drohte, sie würde ihm kein Geld für sein neues Labor hinterlassen.«
»Ist er jetzt bei ihr?« fragte Taylor, während sie Thomas durch den langen Korridor folgte.
»Nein. Er blieb die ganze Nacht hier, und vorhin fuhr er nur nach Hause, weil er sich frisch machen und umkleiden wollte. In einer Stunde müßte er zurückkommen. Lady Esthers Gäste warten in dem Zimmer neben ihren Gemächern. Ich führte sie die Hintertreppe hinauf, unbemerkt von den anderen. Also wird Ihr Onkel Malcolm nichts ahnen und erst informiert werden, wenn es schon zu spät ist.«
Die Suite der Hausherrin lag am Ende des Flurs. Als Thomas die Tür öffnete, betrat Taylor das stockdunkle Schlafzimmer und blinzelte, bis sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnten. An einer Seite stand das Vierpfostenbett auf einem Podest. Gegenüber, vor den Fenstern mit den schweren, zugezogenen Vorhängen, gruppierten
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