Prinz der Nacht
Unsicher blieb sie stehen. Was sollte sie tun? Er war so verstört. Das verstand sie jetzt.
Nein, verbesserte sie sich. Gar nichts verstand sie. Wie sollte sie auch? Niemals war sie so grausam behandelt worden wie Zarek. Wenn es jemand wagte, sie auch nur schief anzusehen, würden ihre Mutter und ihre Schwestern ihn töten. Schon immer hatten sie Astrid vor der Welt beschützt, selbst als sie versucht hatte, ihnen zu entrinnen.
Zarek hingegen war nie geliebt worden, hatte niemals die Wärme einer Familie gekannt. Stets war er allein gewesen, auf eine Weise, die sie sich nicht einmal annähernd vorstellen konnte. Von ihren zurückgewonnenen Gefühlen überwältigt, wusste sie nicht, was sie unternehmen sollte. Jedenfalls wollte sie ihm helfen.
Sie ging zu seiner Tür, die er versperrt hatte. »Zarek?«
Doch er weigerte sich zu antworten, wie schon so oft. Entmutigt lehnte sie den Kopf an die Tür. Würde sie ihn jemals erreichen? Gab es Mittel und Wege, einen Mann zu retten, der nicht gerettet werden wollte?
Artemis ' Befehl brachte Thanatos in helle Wut. »Halte dich zurück!« Nein, unmöglich. Neunhundert Jahre lang hatte er auf seine Rache an Zarek von Moesia gewartet. Niemand würde ihm im Weg stehen. Schon gar nicht diese Göttin.
Er würde Zarek erledigen oder sterben, wenn er es versuchte. Bei diesem Gedanken lächelte er. Artemis war nicht so mächtig, wie sie glaubte. Letzten Endes würde sein Wille siegen. Nicht ihrer. Für ihn bedeutete sie nichts, höchstens ein Mittel zum Zweck. Er würde sein Ziel so oder so erreichen.
Entschlossen hämmerte er gegen die Tür der abgeschiedenen Hütte, in der leise, angstvolle Stimmen erklangen - die Apolliten beeilten sich, ihre Frauen und Kinder zu verstecken. Jeden, der vor ihrem Haus stand, fürchteten sie.
»Ich bin das Licht der Lyra!«, rief Thanatos. Nur ein Appolit oder ein Daimon würde diese Worte kennen, die sie gebrauchten, wann immer sie Zuflucht bei Angehörigen ihrer Spezies suchten. Der Satz war ein Hinweis auf ihre Verwandtschaft mit Apollo, dem Sonnengott, der sie verwünscht und verlassen hatte.
»Warum wandern Sie im Tageslicht umher?«, fragte eine zitternde Frauenstimme.
»Ich bin der Tagestöter. Öffnet die Tür.«
»Beweisen Sie es.« Diesmal sprach ein Mann.
Thanatos knurrte leise. Wieso wollte er diesen wertlosen Leuten helfen? Dann entsann er sich. Vor langer Zeit war er einer der ihren gewesen. Auch er würde sich jetzt verstecken so wie sie, voller Furcht vor den Dark Huntern und ihren Knappen, vor armseligen Menschen, die am helllichten Tag zu ihnen kamen.
»Nun werde ich die Tür öffnen«, warnte er sie. »Ich habe nur angeklopft, damit ihr sie aufsperren und euch vor dem Tageslicht schützen könnt, bevor ich eintrete. Lasst mich hinein. Oder ich breche die Tür auf.«
Endlich hörte er das Schloss klicken. Er holte tief Atem. Langsam stieß er die Tür auf.
Sobald er die Schwelle überquert und die Tür geschlossen hatte, wurde eine Schaufel auf seinen Kopf geschmettert.
Thanatos griff danach und zerrte die Frau aus den Schatten.
»Ich erlaube Ihnen nicht, meine Kinder zu verletzen !«, jammerte sie.
»Vertrauen Sie mir.« Er entwand ihr die Schaufel und warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. »Wenn ich ihnen was antun wollte, könnten Sie mich nicht daran hindern. Das würde niemandem gelingen. Aber deshalb bin ich nicht hier, sondern weil ich den Dark Hunter beseitigen muss, der Sie und Ihresgleichen verfolgt.«
Maßlose Erleichterung erhellte ihr schönes Gesicht, und sie schaute so bewundernd zu ihm auf, als wäre er ein Engel.
»Dann sind Sie wirklich der Tagestöter«, erklang die Männerstimme.
Thanatos drehte sich um und sah einen Daimon aus dem Dunkel auftauchen, der den Eindruck eines Zwanzigjährigen erweckte. So wie alle Mitglieder seiner Rasse war er bildschön, mit langem blondem Haar, das zu einem Zopf geflochten war. An seiner rechten Wange schimmerten drei tätowierte blutrote Tränen.
Bei diesem Anblick wusste Thanatos sofort, wen er vor sich hatte - einen der Spathi-Krieger, die sich nur selten zeigten und die er gesucht hatte. »Gelten diese Tränen Ihren Kindern?«
»Ja. Sie wurden von einem Dark Hunter getötet. Und dann tötete ich ihn.«
Thanatos bemitleidete den Mann. Obwohl die Apolliten im Grunde keine Wahl hatten, wurden sie bestraft, weil sie es wagten, das Leben dem Tod vorzuziehen. Was würden die Menschen und die Dark Hunter tun, wenn man ihnen
erklärte, sie hätten zwei
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