Prinz der Nacht
Skulpturen hatte er gesehen. Aber - Zarek?
So etwas würde ein Exsklave wohl kaum zustande bringen. Im besten Fall war sein Freund mürrisch, im schlechtesten aggressiv. Andererseits - Zarek hatte nie erzählt, was er hier oben machte, um sich die Zeit zu vertreiben.
Er redete überhaupt nur selten.
Jess bezahlte den Kaffee, verließ den Laden und ging zum Ende der Straße, wo eine der Eisskulpturen die Kreuzung schmückte. Fast zweieinhalb Meter hoch ragte ein weißer Elch empor. Kunstvoll gestaltet funkelte er im Mondschein, sodass der Eindruck entstand, er würde jeden Augenblick nach Hause laufen. Zareks Werk?
Unglaublich.
Jess wollte noch einen Schluck von seinem Kaffee nehmen und stellte fest, dass er inzwischen kalt geworden war.
»Wie ich Alaska hasse ... «, murmelte er, schüttete das Gebräu auf den Boden und zerknüllte den Pappbecher. Bevor er
einen Mülleimer fand, läutete sein Handy. Im Display erkannte er die Nummer von Justin Carmichael, einem der Knappen von den Blutriten, die im Norden nach Zarek jagten.
Sobald die Orakel herausgefunden hatten, Artemis und Dionysos würden Zareks Tod wünschen, hatten sie sofort den Rat verständigt. Und der hatte die wildesten Knappen von den Blutriten hierher geschickt, mit dem Auftrag, den ungebärdigen Dark Hunter zu töten.
Nur Jess stand zwischen dieser Bande und Zarek.
In New York City geboren und aufgewachsen, war Justin noch ein junger Mann, etwa vierundzwanzig, mit einer schmierigen Attitüde, die Jess ganz und gar nicht gefiel. »Ja, Carmichael, was ist los?«
»Wir haben ein Problem.«
»Und das wäre?«
»Kennen Sie die Frau, die Zarek hilft? Sharon?«
»Was ist mit ihr?«
»Gerade haben wir sie gefunden. Sie ist ziemlich übel zugerichtet. Ihr Haus ist bis auf die Grundmauern abgebrannt.
Mein Instinkt sagt mir, das war ein Racheakt von Zarek.«
»Scheiße ... « Jess ' Blut drohte zu gefrieren. »Haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Glauben Sie mir, die war unfähig zu reden. Jetzt ist sie im Krankenhaus, und wir sind unterwegs zu Zareks Hütte.
Mal sehen, ob wir den Bastard finden und ihn büßen lassen, bevor er noch jemanden fertigmacht.«
»Und Sharons Tochter?«
»Als das passiert ist, war sie bei einer Nachbarin. Gott sei Dank. Mike passt auf sie auf. Falls Zarek zurückkommt.«
Jess konnte kaum atmen. Und das hing keineswegs mit der beißenden Kälte zusammen. Wie konnte das geschehen?
Im Gegensatz zu den Knappen wusste er, dass Zarek keine Schuld an diesem Verbrechen trug. Nur er allein wusste, wo sein Freund sich wirklich aufhielt. Ash hatte ihm die Wahrheit anvertraut und ihn gebeten, für einen reibungslosen Ablauf des Tests zu sorgen. Nun, gewisse Dinge gelangten schneller in den Süden als eine Gänseschar im Herbst.
»Rühren Sie sich nicht von der Stelle, bis ich da bin«, wies er den Knappen an. »Ich will mit euch in seine Hütte gehen.«
»Warum? Wollen Sie uns mal wieder im Weg stehen, wenn wir ihn abknallen?«
»Hören Sie, mein Junge«, zischte Jess, »gewöhnen Sie sich diesen Ton ab ! Sie reden nicht mit einem Knappen.
Zufällig gehöre ich zu den Typen, vor denen Sie sich verantworten müssen. Warum ich in die Hütte gehen will, geht Sie verdammt noch mal nichts an. Also warten Sie gefälligst auf mich, oder ich zeige Ihnen, wie ich Wyatt Earp gezwungen habe, in seine Hose zu pinkeln.«
Bevor Carmichael wieder zu sprechen begann, zögerte er eine Weile. Dann klang seine Stimme überaus höflich. »Ja, Sir, wir erwarten Sie im Hotel.«
Jess drückte auf die Aus-Taste seines Handys und steckte es in seine Tasche zurück. Was Sharon zugestoßen war, erschütterte ihn. Niemals hätte sie in Gefahr geraten dürfen. Aber ganz egal, was die Knappen dachten, Zarek hatte diese grässliche Tat niemals verübt. Niemals würde er sich an jemandem vergreifen, der schwächer war als er.
Wer hatte es also gewagt?
Sie fand Zarek allein in der Mitte eines niedergebrannten mittelalterlichen Dorfs. Überall lagen Leichen, teilweise verbrannt, Männer und Frauen, Alte und Junge, Kinder. An den meisten entdeckte sie zerfetzte Hälse, als wären Daimons oder ähnliche Kreaturen über sie hergefallen.
Mit grimmig gefurchter Stirn, die Augen voller Qual, wanderte Zarek zwischen ihnen umher. Als wollte er sich vor dem Grauen schützen, das er mit ansah, verschränkte er die Arme vor der Brust.
»Wo sind wir?«, fragte sie.
Zu ihrem Entsetzen antwortete er: »In Taberleigh.«
»Taberleigh?«
»Mein Dorf«, flüsterte
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