Prinz der Nacht
er mit gepresster Stimme. »Hier habe ich dreihundert Jahre lang gelebt. Einmal sah mich eine alte Frau, als sie noch ein junges Mädchen war. Ab und zu legte sie was für mich hin - getrocknetes Hammelfleisch, einen Schlauch mit Ale. Oder sie hinterließ nur ein Stück Pergament, auf das sie geschrieben hatte, sie würde mir danken, weil ich sie alle beschütze.« Verzweifelt schaute er Astrid an. »Ja, diese Menschen sollte ich beschützen.«
Bevor sie fragen konnte, was in diesem Dorf geschehen war, hörte sie den gedämpften Schrei einer Greisin, Zarek lief zu ihr. In zerrissene Kleider gehüllt lag sie am Boden, die Glieder gebrochen, voller Blut und Wunden.
An seiner Miene erkannte Astrid, dass dies die Frau war, von der er ihr erzählt hatte.
Er kniete nieder und wischte das Blut von den Lippen der alten Frau, während sie röchelnd nach Atem rang. »Wie konntest du nur?« Anklagend schaute sie zu ihm auf, bevor das Lebenslicht in den grauen Augen erlosch. In seinen Armen erschlaffte ihr Körper.
Aus seiner Kehle rang sich ein wilder Schrei. Er ließ die Frau los, sprang auf und fuhr mit allen Fingern durch sein Haar. Keuchend schaute er sich um. In diesem Moment wirkte er genauso wahnsinnig, wie es so viele Leute von ihm behaupteten. Astrid litt mit ihm. Was dies alles bedeutete, verstand sie nicht. »Was ist hier geschehen, Zarek?«
Mit verzerrtem Gesicht wandte er sich zu ihr, und in den mitternachtsschwarzen Tiefen seiner Augen brannten Hass und Schuldgefühle. Mit einer weit ausholenden Geste wies er auf die Leichen. »Ich habe sie getötet. Alle.« Mühsam würgte er die Worte hervor. »Warum ich es tat, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur an meinen Zorn, die Gier nach Blut. Aber wie ich sie umbrachte - keine Ahnung. Nur verschwommen sah ich diese grausigen Bilder von sterbenden Menschen.« In seinem Blick las sie Reue und Verzweiflung. »Ich bin ein Monstrum. Begreifst du jetzt, warum ich nicht bei dir bleiben kann? Eines Tages würde ich auch dich töten ... «
Kalte Furcht krampfte ihr Herz zusammen. Hatte sie ihn falsch eingeschätzt?
»Alle Menschen sind schuldig.« So lautete der Lieblingsspruch ihrer Schwester Atty. »Die einzigen anständigen Menschen sind die kleinen Kinder, die noch nicht gelernt haben zu lügen.«
Mit wachsendem Entsetzen betrachtete Astrid die Leichen ringsum. War Zarek wirklich zu einem solchen Verbrechen fähig? Was sollte sie nur glauben? Wer immer die Schuld an diesem Gemetzel trug, verdiente den Tod.
Jedenfalls erklärte es, warum Artemis verhindern wollte, dass Zarek erneut in die Nähe von Menschen geriet.
Bei diesem Gedanken hielt Astrid inne. Moment mal - hier stimmte etwas nicht. Da war irgendetwas falsch. Ganz schrecklich falsch. Auf dem verkohlten Boden lagen tote Menschen. Einige Kinder, zumeist Frauen. Wäre Zarek der Mörder, hätte Acheron ihn sofort getötet. Niemals würde er jemanden am Leben lassen, der über die Schwachen und Hilflosen herfiel, der Kinder umbrachte. Einen Dark Hunter, der seine Schutzbefohlenen abschlachtete, würde er gewiss nicht verschonen.
»Bist du sicher, dass du das getan hast?«, fragte sie.
»Wer sollte es sonst gewesen sein?«, erwiderte Zarek tonlos. »Außer mir war niemand hier. Oder siehst du irgendwen mit spitzen Fängen?«
»Vielleicht ein Tier ... «
»Dieses Tier war ich, Astrid. Dazu wäre kein anderer imstande.«
Doch sie glaubte es noch immer nicht. Es musste eine andere Erklärung geben. »Vorhin hast du gesagt, du könntest dich nicht an die Tat erinnern. Möglicherweise warst du das gar nicht ... «
In seinen Augen flammten Wut und Schmerz auf. »Woran ich mich erinnere - das genügt mir. Ich weiß es, jeder weiß es. Deshalb fürchten mich die anderen Dark Hunter, deshalb reden sie nicht mit mir. Und deshalb wurde ich an einen Ort verbannt, wo keine Menschen beschützt werden müssen. Jede Nacht weckt mich die Angst, Artemis würde mich aus Fairbanks wegholen und in eine noch dünner besiedelte Gegend schicken.«
Beinahe fürchtete sie, er würde die Wahrheit sagen. Doch in ihrem Herzen wusste sie es besser. Ein Mann, der so poetische Worte ersann, wundervolle Kunstwerke schnitzte und für ein Tier sorgte, obwohl es ihn verletzt hatte, würde niemals, niemals ein so grausiges Verbrechen begehen. Aber es gab keine Beweise. Mit ihrer Intuition würden sich weder ihre Mutter noch Artemis begnügen. Also brauchte sie handfeste Fakten, um die beiden von Zareks Unschuld zu überzeugen.
»Wenn ich
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