Privatklinik
ich die Seelen … und beide können wir es nur, wenn wir uns betrinken, betäuben, betrügen. O Bruder im Alkohol, wie gut verstehe ich dich …
Dr. Linden wartete auf eine Reaktion Merckels. Da diese ausblieb, setzte er seine Beichte fort.
»Katastrophen kann man züchten«, sagte er mit belegter Stimme. »Ein Wille, der im Alkohol schwimmt, ist tot wie ein Bandwurm im Spiritus. Die Katastrophe aber liegt in einem Latenzstadium. Plötzlich ist sie da … und der Wille, der sich dagegenstemmen sollte, ist nur noch ein Alkoholpräparat. So war es kürzlich … vor ein paar Tagen …« Dr. Linden bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Nichts war mehr an ihm von dem Mann, den die Welt beneidete, der im Tennisklub den Frauen auswich, weil sie ihn bedrängten, der auf der Jagd die Hochsitze mied, weil weibliche Jäger sich ihm dort anboten, und der in der Gesellschaft mit einem Frack auftrat, der andere Männer zu der Bemerkung reizte: »Ein affektierter Pinkel!« Gibt es ein höheres Lob?
Jetzt saß er da, die Hände vor das Gesicht geschlagen, und seine Sprache war die eines Stammlers.
»Ich habe eine Patientin genommen …«, stotterte er. »Herr Pfarrer … keiner weiß es, nur Sie … ich habe in der Heilanstalt eine Patientin … ich konnte nicht anders, ich … ich … ich habe Angst! Hündische Angst.« Er ließ die Hände fallen, und sein Kopf sank auf die Brust. »Wenn dieser Vorfall Folgen hat … wenn … wenn sie schwanger wird … es gibt nur einen Weg, eine Lawine der Tragödien aufzuhalten: Ich werde sie irgendwie, irgendwann – töten müssen …«
5
Mit dem Ende der Beichte fühlte sich Dr. Linden wie aus einem Schwitzkasten gezogen. Sein Körper war aufgeweicht und schlaff, er kam sich gedunsen und doch wieder ausgelaugt vor. Er wartete auf eine Antwort, aber Pfarrer Merckel schwieg. Groß, bärenstark, den runden Schädel wie zwischen die beiden breiten Schultern eingerammt, stand er am Buffet und trank mit langsamen Zügen ein Glas Mineralwasser. Er sah Dr. Linden schweigend an. Es war ein Schweigen, das der Stille in einem Sarg glich.
Dr. Linden zuckte von seinem Stuhl hoch. »Warum sagen Sie nichts, Herr Pfarrer?« schrie er. »Hat Gott die Sprache verloren?«
»Was soll ich sagen, Doktor?« Pfarrer Merckel stellte das Glas Mineralwasser auf das Buffet. »Sie werden dieses Mädchen umbringen, Sie werden dafür von einem Gericht verurteilt werden, Ihre glanzvolle Welt wird zugrunde gehen …«
»Ich werde mich vorher selber töten!«
»Nein! Soviel Mut bringen wir nicht auf!« Pfarrer Merckel strich sich mit beiden Händen durch die weißen Haare. Daß sie alle nach dem Tod streben, dachte er. Diese Hast nach der Ewigkeit! Was haben sie davon, wenn sie sich selbst umbringen? In eine Kiste kommen sie, in die Erde, das Holz verfault, Maden ernähren sich vom zersetzenden Fleisch, man wird Dünger und nährt die Blumen, die ein gedenkendes Herz gepflanzt hat. Als Kind schon hatte er staunend festgestellt: Die üppigsten Blumen blühen auf den Friedhöfen. Das ist die eine Seite. Und die andere? Sinnlose Flucht. Warum? Man muß büßen für seine Taten, natürlich, denn man ist ein Ordnungsbrecher. Aber man lebt! Ob hinter Gittern oder auf einer Wiese, unter einem Busch oder in einem Salon, in einem Wohnwagen oder einem Palast, einer Kajüte oder einem Keller … man lebt! Man lebt! Man kann die Sonne sehen und ihre Wärme spüren, man kann die Vögel hören und die Blumen riechen, man kann Schweinerippchen mit Sauerkraut essen oder heiße, aufgeplatzte Maronen, man kann eine Frau ansehen und ihre Brüste anstarren, man kann träumen von Begattungen und sich selbst berauschen an der Stärke seiner Lenden, man kann Wasser trinken oder Wasser lassen, man kann das eigene Herz hämmern hören und in der Ferne das Pfeifen eines Zuges oder das Nebelhorn eines Schiffes. Alles, alles ist doch Leben, ist Bewegung, ist Kraft, ist Schönheit … der Strahl aus dem Wasserkran, das Klappern der Schuhabsätze, das Winseln des Windes an der Dachrinne, das Rauschen des Regens, das Schlüsselklappern des Wächters … Leben! Leben! Und sie werfen es weg, sagen so einfach: Dann töte ich mich auch! Warum denn, mein Junge? Und wenn du in der Gosse liegst, ist das Leben noch schön … an deinem Ohr vorbei gurgelt der Abfluß, ein Käfer kriecht über die Straße, ein Blatt wird vom Wind an dir vorbeigetrieben und raschelt wie hundert Kastagnetten, du kannst den Frauen unter die Röcke sehen, und sie merken es
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