Privatklinik
wenige Momente im Leben der Irren erlebte. Aber so war es nun einmal: Dr. Linden war der Gutachter und Prof. Brosius nur der Anstaltsleiter. Vorsichtige Versuche, auch als Gutachter von den Gerichten bestimmt zu werden, schlugen fehl, trotz gleicher Burschenschaft mit dem Oberlandesgerichtspräsidenten, trotz fröhlicher Reitgemeinschaft mit dem Generalstaatsanwalt. Ein dunkler Fleck war da auf der weißen Weste Brosius', der zwar nichts aussagte über die Qualifikation seines psychiatrischen Könnens, wohl aber im neudemokratischen Denken so etwas wie ein politisches Sodbrennen bedeutete: Brosius war Mitglied der Reiter-SA gewesen. Das war nicht zu leugnen, nicht wegzuwischen, nicht zu kaschieren, nicht zu bagatellisieren. So wie er heute im roten Rock auf Fuchsjagd ritt, war er 1938 im braunen Rock durch die Wälder gepirscht. Obwohl jeder wußte, daß ihn nur die Liebe zur Kavallerie, diese große, unglückliche Liebe seit 1913, dazu getrieben hatte, war man der Ansicht, daß ein Gerichtsgutachter so weiß sein müsse wie eine Waschmittelreklame. Bei Dr. Linden war dies der Fall. Er hatte 1937 sein Abitur gemacht, ohne Mitglied der HJ zu sein. Das verdankte er seinem Vater, der eine Allgemeinpraxis als Arzt hatte und durch Zufall eine Patientin mit einer Lues in seine Kartei aufnahm. Sie war eigentlich wegen einer Bronchitis gekommen, aber Dr. Theodor Linden entdeckte, daß das Übel im wahrsten Sinne des Wortes tiefer saß. Zwei Tage später kam der stellvertretende Gauleiter zu Besuch. Das Karteiblatt wurde vernichtet, ein germanischharter Händedruck besiegelte das Schweigen. Aber Konrad Linden brauchte nie die braune Uniform der HJ oder später des NS-Studentenbundes zu tragen.
Prof. Brosius fand das ungerecht. Wie konnte man ihn jetzt dafür bestrafen, daß er nie mit einem luetischen stellvertretenden Gauleiter zusammengetroffen war? So kam es, daß Brosius die Gutachten Dr. Lindens immer selbst gewissenhaft nachprüfte und ein Obergutachten anfertigte, das niemand las und in den Krankenblättern verstaubte.
Peter Kaul war auf der Hut, als Brosius freundlich und jovial ins Zimmer kam und ihm eine Zigarette anbot. Judo-Fritze hatte ihn gewarnt. »Wennste klug sprichst, heißt es: Der Mann ist von einer schizophrenen Bildhaftigkeit! Biste dumm, heißt es: Der Mann hat sich blöd gesoffen. Also paß auf!«
»Wie soll ich mich denn benehmen?« fragte Peter Kaul entgeistert. »Ich bin doch so, wie ich bin! Ich will doch hier heraus! Ich will nie mehr trinken! Ich will ein anständiger Mensch werden!«
»Das sagen se alle.« Judo-Fritze winkte warnend mit dem Zeigefinger. »Sing bloß nicht solche Lieder, Junge! Da ist der Alte ganz sauer.«
Prof. Brosius begann zunächst mit einigen Fragen der Allgemeinbildung. Er hatte damit einmal einen Erfolg erzielt, der am Ärztestammtisch schallendes Gelächter hervorrief. Ein Wermutbruder, der gleichzeitig als sechzehnfacher Einbrecher galt, hatte auf die Frage: »Wer war die Madame de Pompadour?« ernsthaft geantwortet: »Die Matratze eines französischen Königs!« Seitdem eröffnete Brosius seine Intelligenztests mit geschichtlichen Fragen.
Die einstündige Unterhaltung überzeugte Brosius davon, daß der Patient Peter Kaul, Protektionskind des Pfarrers Merckel, ungefährlich und umgänglich sei. Leider hatte das auch Dr. Linden in seinem Gutachten gesagt. Der Patient Kaul wird nur eine Gefahr für die menschliche Gesellschaft, wenn er unter Alkoholeinfluß steht. Dann verletzt er die ethischen Gesetze, die der Mensch braucht, weil er im Grund genommen, ohne die seelische Bremse, nur ein Vieh ist.
Prof. Brosius drückte Peter Kaul freundlich die Hand und klopfte ihm auf die Schulter. »Das bekommen wir schon hin!« sagte er im Brustton ärztlicher Erkenntnis. »Wenn Sie mitarbeiten, lieber Herr Kaul«, er sagte ›Herr Kaul‹, was man für den Preis der ersten Klasse auch verlangen kann, »wenn wir alle an einem Strang ziehen, werden Sie in absehbarer Zeit ein strebsamer, freundlicher, anständiger Mensch sein!«
»Aber das bin ich doch, Herr Professor!« rief Peter Kaul.
Brosius nickte. »Natürlich!« Dann scharf: »Haben Sie Durst?«
»Ja.«
»Immer?«
»Fast immer.«
»Brennen im Magen?«
»Manchmal wie Feuer.«
»Träumen Sie?«
»Manchmal.«
»Was träumen Sie?«
»Nur erotische Dinge, Herr Professor.«
»Aha!«
»Ist das nicht natürlich?«
»Nana …«
»Ich bin jetzt fast vier Wochen von zu Hause weg. Ohne meine Frau. Ich … ich bin es
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