Privatklinik
fast überwunden. Nur die Augen schwammen noch, und jeder, der etwas vom Trinken verstand, brauchte nur in diese Augen zu sehen, um in Merckel einen Freund Dionysos' zu erkennen. Er wußte das selbst, und er setzte eine leicht getönte Brille auf, als der Besucher in sein Arbeitszimmer geführt wurde. »Herr Doktor Linden! Das nenne ich einen guten Besuch. Nehmen Sie Platz! Trinken Sie etwas?«
Die Frage kam glatt von seinen Lippen, so, wie man eben einen lieben Gast zu einem Gläschen einlädt. Dr. Linden schüttelte den Kopf.
»Danke, Herr Pfarrer, nein.« Er war bleich, und die Tünche des eleganten Mannes bröckelte ab, je länger er auf dem lederbezogenen Stuhl hockte. »Wundern Sie sich nicht?«
»Gott wundert sich nie.«
»Sie wissen, wie ich über die Religion denke …«
»Allerdings, Ärzte neigen zu Extremen. Die einen erkennen Gott, wenn sie einen Bauch aufgeschnitten haben, die anderen, Virchow, euer Medizinpapst, gehörte dazu, sagte: ›Ich habe Tausende Körper aufgeschnitten – eine Seele habe ich noch nie entdeckt.‹ Sie tendieren zu Virchow, lieber Linden, ich weiß.«
»Ich möchte Ihnen etwas beichten, Herr Pfarrer«, sagte Dr. Linden gepreßt. »Fragen Sie nicht: Sind Sie evangelisch oder katholisch … ich bin nichts! Als Kind wurde ich katholisch erzogen, aber das sind Kindheitserinnerungen, die ich als Student im ersten Semester ablegte. Jetzt …«, er stockte und schnippte nervös mit den Fingern, »… jetzt habe ich das Bedürfnis, mit einem Priester zu sprechen. Ich muß Ihnen ein Geständnis machen … ich bin ein Schwein!«
Pfarrer Merckel zeigte keinerlei Erstaunen oder auch nur Verblüffung. Er nickte nur, als habe Dr. Linden vollkommen recht. »Wir alle sind Schweine, Doktor, womit ich nicht die lieben Borstentiere beleidigen möchte. Irgendwo, in irgendeiner Ecke seines Wesens, ist jeder Mensch anders, als er sein sollte, ist jeder Mensch schlecht! Sie sagen es von sich – ich gestehe es bei mir selbst auch. Vollkommenheit ist etwas Schreckliches: Sie ist langweilig! Wären wir vollkommen, brächten wir uns alle selbst um … wir gähnten uns zu Tode!«
»Ich … ich bin Alkoholiker!« sagte Dr. Linden laut.
Pfarrer Merckel fuhr herum und suchte Halt, als habe man ihn vor die Brust gestoßen. »Sie – auch?« fragte er fassungslos.
Dr. Linden legte den Kopf in den Nacken zurück. »Es ist eine kurze Geschichte, Herr Pfarrer. Sie liegt fünf Jahre zurück. Damals begann ich meine Karriere als Hirnspezialist, ich sah einen Aufstieg vor mir, einen Gipfel, der jeden schwindlig gemacht hätte, nur mich nicht. Es klingt eitel, aber ich wußte, was ich konnte. Ich kannte meine Grenzen – sie begannen da, wo für andere schon das Wunder eingesetzt hat. In diesen Tagen der Sternennähe schleuderte ich mit meinem Wagen, prallte gegen einen Kilometerstein, wurde herausgeschleudert und war zwei Tage besinnungslos. Nichts blieb zurück, kein Bruch, keine Verrenkung, kein Trauma … nur, als ich nach sechs Wochen Ruhelager wieder operieren wollte, hatte ich das Fingerspitzengefühl verloren. Wissen Sie, was das heißt: Chirurg, Hirnchirurg, und kein Gefühl mehr in den Fingern? Der Tastsinn ist das Göttliche an unserem Beruf! Und dieser war nun weg. Irgendwo in meinem Hirn war durch den Aufprall, während der zweitägigen Ohnmacht, eine falsche Schaltung eingetreten. Ich habe alles versucht … medikamentös, durch Schock, durch Elektrobehandlung, durch Bestrahlung … dann nahm ich aus Verzweiflung Morphium, nicht, weil es heilen sollte, sondern weil ich mich betäuben wollte. Und dann, eines Tages, betrank ich mich, sinnlos. Aber bevor ich in Agonie fiel, kam ein Wunder über mich … ich spürte unter meinen Fingerspitzen den Bierfilz, ich konnte feinste Unebenheiten auf dem Glasrand ertasten … ich hatte mein Fingerspitzengefühl wieder. Am nächsten Tag machte ich die Probe … ohne Alkohol … nichts! Mit Alkohol … Tastsinn! Herr Pfarrer – es war wie eine Offenbarung! Und seitdem trinke ich … vor jeder großen Operation, vor jeder Untersuchung, die meine Fingerspitzen braucht … heute genügen drei oder vier Gläschen Cognac, und hier …«, er tippte an seine Stirn, »… hier im Hirn knacken die Kontakte und ordnen sich. Es ist, als ob die Nerven sich hinlegen und sich dabei vereinigen. Ich werde frei, mutig, und – Sie wissen es – ich stieg zu dem empor, was ich heute bin!«
Pfarrer Merckel schwieg. Er operiert, ich schreibe und predige. Er heilt die Körper,
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