Privatklinik
anstehen, um auch einmal das Bein an einem Baum zu heben. Auch ich bin ein Feigling, ich war es immer! Was man bisher von dem Doktor Linden kennt, ist die Potemkinsche Fassade seines Lebens, ist der Daseinskarneval, ohne den man in der Gesellschaft als fade und abgestanden gilt. Im Grund bin ich ein elender Mensch.«
»Bitte, keine Selbstbemitleidung!« Merckel trank der Einfachheit halber gleich aus der Flasche. »Sie sind ein Genie.«
»Wenn ich gesoffen habe!«
»Ihre Operationen sind phantastisch.«
»Sie sind ein Wunder. Ich stehe nach diesen Stunden im OP vor dem Spiegel und starre mich selbst an und frage mein Spiegelbild: Konrad, woher kannst du das? Und da es darauf keine Antwort gibt, trinke ich weiter.« Dr. Linden nahm Pfarrer Merckel die Flasche aus der Hand und goß sein Glas erneut voll. »Aber Sie, Pfarrer. Warum trinken Sie? Sie stehen unter der segnenden Hand Gottes, Sie bekommen Kraft aus seinen Worten – so wenigstens predigen Sie es ja den anderen! Sie stehen mit den Beinen auf der sündigen Erde und mit dem Kopf im Himmelreich! Sie haben gar keinen Grund, zu trinken.«
Pfarrer Merckel schwieg. Er tappte zu seinem klösterlichen Betstuhl, kniete nieder und faltete die Hände. Dr. Linden erhob sich schwankend und hielt sich am Tisch fest.
»Himmel noch mal, wollen Sie jetzt beten?«
»Ich will Ihre Frage beantworten, Doktor.« Die tiefe Stimme Merckels bebte, als habe er einen schnellen Lauf hinter sich. »Dabei muß ich die Mutter Gottes ansehen, muß die Hände falten, muß beten. Ich rufe um Verständnis, ich flehe um Vergebung, ich bettele um eine Antwort … verstehen Sie das? Zwei Weltkriege habe ich mitgemacht … den ersten als junger Vikar, bei Langemarck, wo wir Schlachtvieh wurden, bei Verdun, wo wir ahnten, wie die Hölle aussehen mußte. Und dann der zweite Krieg … Rußland, als Divisionspfarrer in den Sümpfen, an der Rollbahn, am Rande des Einschließungsringes von Stalingrad. Einmal bin ich eingeflogen in den Kessel … Mitte Dezember. In Gumrak lagen die Sterbenden wie weggeworfene, faulende Kohlköpfe, in den Kellern moderten die Verwundeten, auf der Straße nach Pitomnik pflasterten ihre Leichen den Weg. Und ich stand dazwischen, sollte das Kreuz heben und sagen: ›Kinder Gottes, der Herr ist bei euch! Er liebt euch, denn so steht es geschrieben: Wen der Herr liebt, den züchtigt er!‹ Das ist doch Wahnsinn! Wahnsinn!! Was habe ich getan? Ich bin herumgegangen. Ich habe neben den steifgefrorenen Leichen in den Güterwaggons von Gumrak gesessen, ich habe in den Kellern Stalingrads gehockt und die Augen zugedrückt, wortlos oder zu den Sterbenden sprechend: ›Ja, mein Junge, ich bin ein Priester, du wirst in den Himmel kommen, das ist gewiß, das ist das mindeste, was du verlangen kannst von Gott! Jawohl, verlangen! Du hast jetzt eine Forderung an Gott. Lös sie ein, hörst du, leg ihm deinen Beinstumpf vor, deinen aufgerissenen Leib, dein halbiertes Gesicht, deine hervorquellenden Därme, deine zerfetzte Lunge, deine weggeschossenen Hände. Das sind Einlaßscheine ins Paradies, mein Junge. Darum schweigt Gott jetzt, weil du schon die Fahrkarte in die Seligkeit hast …‹ Das habe ich gesagt, ich war ein merkwürdiger Priester, aber ich konnte nicht lügen. Ich flog wieder aus dem Kessel aus, ich wartete auf ein Zeichen Gottes, auf Erbarmen, auf ein Wunder! Ich warte heute noch darauf … und was sehe ich? Aus dem Blut der fünfundfünfzig Millionen Toten des letzten Krieges wurde die Arroganz des Konjunkturwohlstandes, aus den Leiden der Menschheit lernte der Mensch nichts anderes, als daß es das höchste sei zu fressen, zu saufen, zu huren! Sie gehen in keine Kirche. Doktor Linden, aber machen Sie sich den sonntäglichen Spaß und besuchen Sie eine Messe! Wer sitzt darin? Die alten Weiblein, die Geschäftsleute, die gesehen werden wollen, denn ein guter Christ ist immer noch die beste Reklame, die Frauen der Wohlstandsgesellschaft, die Kirchgang mit Modenschau verwechseln, die Jugend, die sich hinten im Chor zusammendrängt und sich verabredet für den Nachmittag, wo sie dann mit ihren steilen Zähnen in den Büschen liegen! Wo man hinsieht: Heuchelei, Theater, Pharisäertum! Und ich stehe da auf der Kanzel und muß predigen … von der Liebe Gottes, von den Zehn Geboten, die täglich hundertmal gebrochen werden, denn wer kümmert sich noch darum: ›Du sollst nicht ehebrechen‹ oder ›Du sollst nicht töten‹ oder sage einem Politiker gar ›Du sollst kein
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