Privatklinik
Leuchtstoffröhrenfackel des Weiterlebens … mit einem Kind im Leib … und Durst, wieder Durst, wie damals, wie immer … Sehnsucht nach dem brennenden Trank, der Sekunden später durch das Blut flutet und die Welt verändert. Durst …
Erst um sieben Uhr morgens, bei der morgendlichen Verteilung der Fieberthermometer, wurde das leere Zimmer Karin von Putthausens bemerkt.
Der Alarm riß Dr. Linden aus dem Bett. Seine Frau Brigitte starrte ihn entsetzt und voll Unverständnis an, als er mit einem dumpfen Aufschrei aus dem Zimmer jagte.
»Konrad!« rief sie. »Was ist denn? Mein Gott, du bist ja wie von Sinnen! Kann ich dir helfen?«
»Nein!«
Dr. Linden kam zurück ins Schlafzimmer. Er lehnte am Türrahmen, Schweiß rann ihm über das Gesicht. Er starrte seine Frau an, lange, stumm, bis sie aus dem Bett stieg und in ihrem kurzen, dünnen Schlafanzug auf ihn zukam, eine schöne, reife Frau mit hochgesteckten kupferbraunen Haaren.
»Konrad!« stammelte sie. »Was ist denn? So sag doch etwas … Lieber …«
»Liebst du mich?« fragte er dumpf. Sie zuckte zusammen und legte die Hände über ihre durch den dünnen Stoff sichtbaren Brüste, als schäme sie sich plötzlich vor seinem Blick nach langjähriger Ehe.
»Konrad, du bist krank … ich sehe es … du bist ganz weiß im Gesicht …«, flüsterte sie entsetzt.
»Du mußt mich immer lieben, Gitte«, sagte er hohl. »Das ist keine leere Rede! Ich werde Liebe brauchen … viel Liebe …«
Dann wandte er sich ab und rannte aus dem Zimmer. Im Ankleideraum schloß er sich ein, kam angezogen und mit einem kleinen Koffer aus Krokodilleder wieder heraus und schwankte etwas. Zum erstenmal roch Brigitte aus seinem Mund starken Alkoholdunst, bemerkte sie einen starren, glänzenden Blick an ihm, eine gelblichweiße Hautfarbe.
»Du … du verreist, Konrad?« rief sie. Es klang, als schreie sie um Hilfe. Dr. Linden drückte den Koffer an die Brust.
»In die Hölle! Gitte! In die Hölle!« sagte er laut. »Komm nicht nach, du kennst den Weg nicht. Er führt über einen Regenbogen aus Feuer, und der Bogen beginnt in unserer Seele. Hinein ins Teuflische!«
Es war das letzte, was Brigitte von ihrem Mann hörte. Von dem Hirnchirurgen, Dozenten und medizinischen Sachverständigen Dr. Konrad Linden, dem Mann, den man beneiden durfte, denn er hatte alles, was das Leben zu bieten vermochte.
Nur nicht sich selbst. Sein eigenes Ich fand er nie.
Mit den Fingerspitzen begann es, mit dem Gefühl, das ein Chirurg gerade an dieser Stelle braucht. Er verlor es, und mit ihm sich selbst.
Soll man einfach sagen: Manchmal ist das Leben nur eine Fingerspitze?
Dumm klingt das, nicht wahr? Aber die Dummheit ist ein Hauptbestandteil des Lebens …
Es gibt Kreisläufe, die zwingend sind. Der Blutkreislauf etwa, oder der Kreislauf der Erde um die Sonne, oder das Kreisen der Elektronen um den Atomkern.
Der Kreislauf Dr. Lindens hieß Pfarrer Merckel.
Er schellte gegen acht Uhr an der Tür des Pfarrhauses von St. Christophorus und erfuhr von der empörten Haushälterin, daß der Herr Pfarrer noch im Schlaf liege, da er heute erst um zehn Uhr die Beichte abnehmen wollte und zwei Vikare den morgendlichen Kirchendienst verrichteten.
»Holen Sie ihn aus den Federn!« befahl Dr. Linden und drängte sich an der Haushälterin vorbei in den pfarramtlichen Flur. »Er soll nicht schlafen, während seine Umwelt zugrunde geht!«
Die Haushälterin hob schnuppernd die Nase und sah Dr. Linden empört an. »Sie riechen nach Schnaps, Herr Doktor!«
»Irrtum! Es ist der Lustgeruch der Satyre, wenn sie die Nymphen jagen …«
»Warten Sie!« Die Haushälterin verkrampfte die Finger in ihre Schürze und begab sich auf den Weg, Pfarrer Merckel zu wecken. Das war eine schwere Aufgabe, denn für Merckel war es gestern spät geworden, er hatte seine Sonntagspredigt ausgearbeitet und sich Kraft im Alkohol geholt. Über bestimmte Sätze kam er ohne tiefe Schlucke nicht hinweg, wie etwa: »Wir sind alle Brüder in Christo!« oder »Das Reich Gottes ist uns gewiß« oder gar »Gott ist die Liebe!« Dann dachte er, und der Griff zur Flasche mußte ihn trösten: Fünfundfünfzig Millionen Tote waren es im letzten Krieg, zweieinhalb Milliarden werden es im nächsten sein. Kann man sich das vorstellen? Wieviel Nullen sind es? Bitte: 2.500.000.000. Und jede Null ist ein Mensch, der sterben wird durch die Nullen, die sie regieren. Aber: Gott ist die Liebe!
Schnaps her, mein Gott – sonst habe ich nicht die Kraft,
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