Privatklinik
mich mit dir zu unterhalten!
Wie lang ist da eine Nacht! Und wie lang ist eine Predigt, die am Sonntag nur dreißig Minuten dauern wird.
Pfarrer Merckel reagierte auf das Klopfen seiner Haushälterin mit einem Knurren, Brummen, Stöhnen und einem unchristlichen Ruf: »Ruhe, du Hexe!« Aber als er, durch Nebel und Hirnzucken, den Namen Dr. Linden wahrnahm, sprang er aus dem Bett, hustete, taumelte zum Waschbecken und steckte den Kopf unter den kalten Wasserstrahl. »Sofort!« prustete er, nahm einen Mund voll Wasser, spuckte es mit einer Grimasse aus und griff nach einer Dose mit Mentholbonbons. Vier Stück steckte er in den Mund, zerbiß sie mit seinen mächtigen Kinnladen und hauchte gegen die hohle Hand, ob noch ein Lüftchen von Alkohol zu riechen war. Es roch nach Menthol, was ihn sehr befriedigte.
Dann zog er sich an, kämmte seine weißen Haare, betrachtete sich im Spiegel, unterdrückte das selbstverständliche Durstgefühl und öffnete die Tür. Vorher aber riß er noch die Fenster auf und ließ den Morgenwind hereinblasen, um die nächtliche Geruchsansammlung nicht seiner Haushälterin zuzumuten.
Dr. Linden wartete im Arbeitszimmer und betrachtete eingehend den geschnitzten eichenen Gebetsstuhl vor der Madonna mit dem Ewigen Licht. Er drehte den Kopf kurz nach hinten, als Pfarrer Merckel hereinstampfte, und wies auf das Prachtstück der Bibliothek.
»Schön alt …«
»Dreihundert Jahre. Aus dem Kloster St. Antonius in Oberkärnten. Ein Nonnenkloster. Handgeschnitzt. Einmal soll an ihm beim Gebet ein durchreisender Abt einen Schlag bekommen haben.« Pfarrer Merckel schlug die Tür zu, im Flur stand die Haushälterin und lauschte. »Soll ich Ihnen noch mehr von Oberkärnten erzählen, Doktor? Sie sind sicherlich aus Wissensdurst zu mir gekommen?«
Dr. Linden hob die Schultern und drehte sich langsam um. Merckel erkannte an den wässerigen Augen, wie es um seinen Besucher stand.
»Sie ist weg!« sagte Linden dumpf.
»Wer?«
»Das Mädchen aus der Heilanstalt. Sie wissen …«
»Ach, die Sie –«
»Ja! Ich habe sie gestern zu mir genommen in meine Klinik. Es mußte sein, sie redete zu allen darüber. Gestern abend habe ich den ersten Schritt zu ihrer Tötung getan … ich habe ihr radioaktiv bestrahltes Wasser gegeben. Das erzeugt Leukämie …«
»Raffiniert, Doktor!« Pfarrer Merckel setzte sich schwer. Mein Kopf, dachte er. Er platzt. Gleich gibt es einen Knall, und er ist explodiert.
»In der Nacht ist sie weg! Man hat es heute morgen um sieben entdeckt.«
»Die Radioaktivität!« sagte Merckel sarkastisch. »Vielleicht ist sie zur Rakete geworden!«
»Lassen Sie die Witze, Herr Pfarrer!« Dr. Linden stützte den Kopf in beide Hände. »Sie wissen, was das bedeutet?«
»Ja.«
»Mein Ende als Arzt und Mensch.«
»Als Mensch waren Sie schon am Ende, Linden! Arzt blieben Sie nur durch den Alkohol! Ich weiß nicht, wem Sie nachtrauern.« Merckel stand auf und trottete zum Schrank, ein breiter, etwas nach vorn gebeugter Bär mit weißen, wallenden Haaren. Er schloß ein Fach der Bibliothek auf und schob drei Flaschen auf den Tisch. »Beruhigen wir uns erst einmal, Doktor Linden. Nehmen wir unseren Tröster an die Brust. Fangen wir mit einem Klaren an?«
Dr. Linden nickte. »Ich bin weg«, sagte er.
»Was heißt das?«
»Draußen steht mein Koffer.«
»Sie flüchten?«
»Ja.«
»Wohin?«
»Irgendwohin! Ich weiß es noch nicht.« Dr. Linden hob beide Hände, als Merckel etwas entgegnen wollte. »Nein, sagen Sie jetzt nicht, das wäre eine billige Flucht. Feigheit! Schwachheit! Lumperei! Ein Schlappschwanz, dieser Linden! O nein – aber bedenken Sie, welcher Skandal sich da zusammenbraut. Ich, der Arzt und Sachverständige, habe die Notlage einer Delirium-tremens-Patientin ausgenutzt, sie zu meiner Geliebten gemacht und geschwängert! Wenn das kein Skandal ist!«
»Er bleibt es, ob Sie weglaufen oder bleiben.«
»Aber wenn ich weglaufe, erlebe ich ihn nicht mehr. Ich stehe nicht mitten drin, ich sehe ihn am Rande, als Zuschauer, als anonymer Besucher einer Arena, in der man einen Doktor Linden zerfleischt.« Er griff nach dem Glas, das ihm Merckel hinschob, und trank wie ein Verdurstender, mit geschlossenen Augen, mit zuckenden Lippen, mit hüpfendem Adamsapfel. Dann seufzte er zufrieden und hielt das Glas von sich ab. »Sie wissen doch, Herr Pfarrer, wir Trinker sind elende Feiglinge. Stark sind wir nur im Exzeß. Dem Leben gegenüber sind wir winselnde Hunde, die in langer Reihe
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