Privatklinik
Hotelzimmer, Demonstration der aufopfernden Liebe. Was er verbergen wollte, um dessentwillen er aus Essen geflüchtet war in die Anonymität der Trinker, was er nicht ertragen konnte, hatte sie nun doch erreicht: Sie sah seinen Zusammenbruch, das Zusammenfallen eines Ideals, als das er gegolten hatte und dessen Bild er immer blank und fleckenlos gehalten hatte, den Niedergang eines Mannes, die Entblößung des Ich bis zur grausamsten Nacktheit der Seele, die Entkleidung eines Menschen von allen Masken und Übertünchungen, Lügen und Halbwahrheiten, Schlichen und Beteuerungen. Sie hatte ihn gesehen, wie er nie gesehen werden wollte. Sie hatte Erinnerungen und Illusionen ausgelöscht. Sie kannte nun den wahren Dr. Linden.
Gibt es Schrecklicheres, als einen Menschen ganz zu kennen?
Er starrte an die Decke. Das Glas Wein hatte seinen Durst geweckt. Aber er bezwang sich.
»Laß mich allein …«, sagte er.
»Nein!« antwortete sie fest.
»Zwing mich nicht, eine Dummheit zu begehen!«
»Was kann es noch für Dummheiten geben?«
»Ich könnte aus dem Fenster springen …«
»Dann springe ich mit.«
»Ich könnte dich umbringen!«
»Glaubst du, das wäre schrecklich für mich?«
»Ich könnte dich für den Rest deines Lebens verstümmeln.«
»Es steht dir frei, das zu tun. Den Anblick mußt du ertragen …«
»Ich will, daß du gehst!« schrie er. »Ich trete dich aus dem Zimmer!«
»Und ich werde mich vor die Tür setzen und warten, bis du hinauskommst. Warum wehrst du dich dagegen, daß ich bei dir bin?« Sie beugte sich über ihn und sah ihm in die starren, im Untergrund unruhigen Augen. »Ich bin eben da … wie die Luft, die Sonne, der Wind, die Wolken, der Regen … Gehst du weg, gehe ich mit, legst du dich hin, liege ich auch, trinkst du, trinke ich mit …«
»Das ist die Hölle!« stammelte Linden. »Und Viola … unser Kind?«
»Ich habe sie nach Hause geschickt. Ich wollte ihr ersparen, daß sie ihren Vater so sieht, wie du ausgesehen hast. Sie soll Mitleid mit einem Kranken haben, nicht Verachtung für einen Haltlosen.«
»Haltlos! Wie vernünftig, wie logisch, wie normal ihr alle denkt! Es ekelt mich an! Seit Jahren kann ich nur unter Alkohol operieren, wußtest du das?«
»Nein! Ich glaube es auch nicht!«
»Glauben! Meine Finger sind tot ohne Alkohol! Sieh sie dir an! Hier! Hier!« Erhielt ihr seine Hände vor die Augen. »Gefühlloses Fleisch sind sie. Erst Cognac belebt ihre Nerven! Und dann überspringt man eine Grenze, ganz plötzlich, ganz ungewollt, dann ist man nicht mehr der Sieger über den Alkohol, sondern sein Opfer. Dann geschehen Dinge, die ein ganzes Leben zerstören.« Er streckte sich und drückte mit beiden Händen das Gesicht Brigittes weg. »So weit bin ich jetzt. Und deshalb geh! Ich bitte dich, geh! Lebe für Viola, das ist deine Aufgabe. Ich lebe nicht mehr. Ich bin ein Präparat in Alkohol …«
Nach einer Stunde sah er ein, daß Beredsamkeit keinen Sinn hatte. Er trank noch zwei Glas Wein, aß widerwillig etwas Rührei mit Schinken, das ihm Brigitte bringen ließ, zog sich dann an und ging mit ihr spazieren. Sie führte ihn wie einen Schwerkranken, und er ließ es geschehen. Sein Plan stand fest.
Am Nachmittag schlug er vor, einkaufen zu gehen. Er machte einen fröhlichen, gelösten Eindruck, er war wie in seiner besten Zeit, witzig, galant und bestellte telefonisch Blumen für Brigitte. »Für meinen Engel«, sagte er, als er den Strauß überreichte. Er küßte sie, rasierte sich sorgfältig, tupfte die Gesichtshaut wie früher mit Kölnisch Wasser ab, entwickelte einen Reiseplan für die Weihnachtsferien … Cortina d'Ampezzo, Weihnachten und Silvester im Schnee, mit Schlittenfahrt und Glöckchengeläut am Pferdehalfter … und dann gingen sie einkaufen wie Jungverheiratete, Arm in Arm.
Brigitte war glücklich. Sie ließ sich täuschen. Er hat den Schock überwunden, glaubte sie. Er hat zurückgefunden. Es war in ihm wie ein Fieber, das plötzlich zusammengefallen ist. Morgen fahren wir zurück in unser Haus. Das Wichtigste wird die Nacht sein, die noch kommt.
In einem großen Kaufhaus schwammen sie im Gewoge der Menschen. Eine riesige Halle, Wellen aus Leibern, die sich an den Ständen brachen, teilten, weiterfluteten, brausend, hektisch … Sie blieben an einem Stand mit Pullovern stehen, Sonderangebot, jedes Stück nur fünfzehn Mark, reine Wolle, garantiert Merino, meine Dame, dieses Blau steht Ihnen phantastisch, na, mein Herr, sagen Sie das nicht auch,
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