Privatklinik
ausgespritzt mit einem Chlorophyllspray, der den Alkoholgeruch wegnahm, aber die Seligkeit im Gehirn beließ.
Brosius war an diesem Tag sehr zugänglich. Die Anonymen Alkoholiker hatten sich für den Nachmittag angesagt. Vorfreude auf Niederlagen anderer ist ein tief menschlicher Zug, dem auch Brosius erlag. In Zimmer siebzig, Station III, war gegenwärtig eine Belegschaft, die den Teufel zum Schwanzausreißen bringen konnte. Selbst Judo-Fritze verzweifelte diesmal. Ob er brüllte oder schlug … die sturblickenden Männer auf Zimmer siebzig grinsten und ließen Fritze totlaufen. Seit gestern hatten sie, auf den Rat eines Unbekannten hin, eine neue Taktik entwickelt: Sie legten ihre Kleider ab und liefen nackt herum. Weder gutes Zureden noch Gewalt konnte sie dazu bringen, sich zu bedecken. Zog man sie gewaltsam an, zerrissen sie die gestreiften Hosen und Jacken und warfen sie durch die Gitterstäbe aus dem Fenster. Als letztes Mittel hatte Brosius die Essensentziehung angeordnet. Nur der sollte einen Teller Suppe bekommen, der sich wieder anzog. Die Säufer von Zimmer siebzig grinsten bloß. Und einer sagte: »Das ist ungesetzlich! Uns steht dreimal Essen zu!«
Es war ein Fall von Rebellion, den Brosius noch nicht erlebt hatte. Da er erwartete, daß die Herren von den Anonymen Alkoholikern dieser Situation auch nicht gewachsen sein würden, saß er sehr leutselig Pfarrer Merckel gegenüber und hörte sich an, was der Priester sich ausgedacht hatte.
»Wir sollten einen Versuch machen, Herr Professor«, sagte Merckel, nachdem er ein Glas angebotenen Cognac abgelehnt hatte, obwohl der Geruch des Alkohols ihn unruhig machte. »Entlassen wir unseren Freund Peter Kaul …«
»Entlassen? Wieso?« fragte Brosius verwirrt zurück.
»Peter Kaul wird nicht wieder trinken.«
»Ist diese Behauptung nicht ein bißchen leichtfertig, Herr Pfarrer?«
»Ich weiß es, Herr Professor.« Merckels Stimme wurde eindringlich wie bei einer Predigt über die Sünden des Fleisches. »Er hat keinen Grund mehr, sich zu betrinken. Wir haben ihn geheilt. Er hat Frau Milbach sprechen können, er hat seinen Erpresser Bollanz unschädlich gemacht, er ist – wenn man so sagen darf – über seine Psychose hinweggesprungen. Er ist erwacht! Ich habe ihn vorhin gesprochen … er begreift einfach nicht, warum er früher getrunken hat.«
»Das sagen sie alle. Und ein paar Monate später kommen sie als lallende Wracks wieder zu uns!«
»Um diese Gefahr auszuschalten, habe ich einen Vorschlag: Behalten Sie Kaul hier in der Anstalt. Aber nicht als Patient, sondern als Mitarbeiter. Er ist ein vorzüglicher Elektriker – so etwas könnte jede Klinik gebrauchen!«
»Das ist Sache der Verwaltung, lieber Herr Pfarrer.«
»Die Verwaltung hat nichts dagegen, wenn Sie Kaul als geheilt entlassen.«
»Ach, das haben Sie auch schon organisiert?« Prof. Brosius lachte. »Sagen Sie mal – sind Sie Priester oder Stellenvermittler?«
»Beides, Herr Professor. Ein gutes Leben auf Erden sichert eine gute Stellung in der Seligkeit.«
Brosius schob die Unterlippe vor. »Interessant. Ehrlich, Herr Pfarrer – glauben Sie an das alles? An Himmel und Hölle, an ein Weiterleben nach dem Tod, an das, was Sie Seligkeit nennen?«
»Ja!«
»Es ist Ihr Beruf.«
Merckel schwieg. Er hatte sich diese Fragen oft genug selbst vorgelegt, und wenn er an die Grenze seines Glaubens kam, hatte er zur Flasche gegriffen, sich vor einen Spiegel gestellt und sich selbst angepredigt. »Gott ist dein Herr!« hatte er sich angeschrien. »Begreif es doch, du Dickschädel! Gott hat Himmel und Erde gemacht und die Meere und das Land und die Tiere und die Pflanzen und die Sterne und die Sonnen. Nichts geschieht, was Gott nicht weiß!« Und hier war es immer, wo er sich anstarrte, wo er nach der Flasche tastete und trank und so lange trank, bis er umfiel.
Hat Gott auch die Mörder gemacht, dachte er erschrocken. Duldet er auch die Kriege? Ist es sein Wille, daß in Asien jedes Jahr zwei oder drei Millionen verhungern? Beschützt er die Politiker, die ihr Volk belügen? Ist es sein Geist, der sich in Kriegserklärungen niederschlägt? Hat er von den KZs gewußt, von den Vergasungen, von dem Zerbomben der Städte, vom Sterben unschuldiger Kinder im Phosphorfeuer, das vom Himmel, aus seinem Himmel fiel?
Was blieb da anderes übrig als der Trunk? Wer konnte Antwort geben? Einmal hatte es Pfarrer Merckel versucht. Er war zu seinem Bischof gefahren. Die Antwort: Lieber Bruder, fahren Sie in
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