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Prophezeiung der Seraphim

Prophezeiung der Seraphim

Titel: Prophezeiung der Seraphim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Vassena
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Gabrielles Tochter war, dann gehörte sie nicht hierher, dann war dies gar nicht ihr Zuhause. Jemand hatte sie genommen und in ein falsches Leben gesetzt – ohne sie zu fragen.
    Doch wer hatte das getan? Eine unheimliche Wut stieg in ihr auf. Wie hatten die Lagardes fünfzehn Jahre lang so tun können, als wäre sie ihre Tochter? Sie wussten sogar, dass Julie besondere Kräfte in sich trug, wenn sie auch aus irgendeinem Grund annahmen, dass diese erst in einem Jahr erwachen würden.
    Sie schnaubte. Darin hatten sie sich getäuscht! In diesem Moment wünschte sie sich, ihre Begabung bestünde darin, Blitze zu schleudern, so wütend war sie. Sie ballte die Faust und schlug gegen die Mauer – zufrieden registrierte sie den Schmerz, als der raue Putz ihre Haut aufschürfte.
    Erst als es bereits dämmerte, wurde Julie ruhiger. Irgendwann hatte ihre Mutter nach ihr gerufen, doch sie hatte nicht geantwortet. Nach wie vor wollte ein Teil von ihr davonlaufen, und ein anderer Teil wollte alles vergessen, was sie gehört hatte, damit sie einfach weiterleben konnte wie bisher. Aber sie wusste, das war nun nicht mehr möglich: Die Zeit floss nur in eine Richtung.
    Ich habe einen Bruder, dachte sie. Auch das hatte man ihr fünfzehn Jahre lang verheimlicht, und noch begriff sie kaum, was das bedeutete. Sie stand auf. Ihre Beine waren steif. Als sie aufblickte, saß Songe vor ihr, reglos, bis auf die Schwanzspitze, die hin und her zuckte.
    Jetzt weißt du es also , vernahm Julie, während Bernsteinaugen sie unverwandt ansahen.
    »Du hast es gewusst?« Julie sprach laut. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und wiederholte: »Du hast es gewusst?«
    Ja . Songe rührte sich nicht. In Julies Brust zerbrach etwas. Sie wich zurück und streckte der Katze abwehrend die Handflächen entgegen. »Bleib weg von mir. Ihr habt mich alle belogen, auch du.«
    Julie, du musst dich beruhigen , sagte Songe lautlos. Es gibt etwas, das du wissen solltest.
    »Ich will mich aber nicht beruhigen!« Julie schrie jetzt. Nur fort von hier! Sie raffte ihren Rock und rannte auf die Straße. Und dann tat sie etwas, das sie noch nie getan hatte: Sie verschloss ihren Geist vor Songe. Ihr ganzes Leben war eine Lüge, und Songe war ein Teil davon. Der Einzige, dem sie jetzt noch vertrauen konnte, war Fédéric.
    Auf der Rue Mouffetard war es eigentümlich ruhig, die ganze Straße lag verlassen. Nur Mère Haillon hockte wie üblich vor ihrem Laden. »Schon gehört? Die Bastille soll gestürmt worden sein«, krächzte sie, aber Julie eilte an ihr vorüber. Was interessierte sie das! Erst vor der Schuhmacherwerkstatt blieb sie stehen und sah durch das Ladenfenster hinein. Fédéric und sein Vater saßen beim Schein zweier Öllampen über ihrer Arbeit.
    Sie streckte den Kopf durch die Tür, und obwohl ihr gar nicht danach war, setzte sie ihr lieblichstes Lächeln auf, ging dem wie üblich schlecht gelaunten Meister Guyot ein wenig um den Bart, bewunderte die Schuhe, die zur Abholung bereit standen und rang sich ein paar Scherze ab. Innerlich glaubte sie zu zerbrechen, wenn sie nicht sofort mit Fédéric sprechen konnte.
    Der wagte aber nicht, seinen Platz in der hintersten Ecke des Ladens zu verlassen, und stach wie wild mit der Ahle Löcher in ein Stück Leder. Endlich ließ der Schuster sich erweichen und gab seinem Sohn einen Wink. Fédéric sprang auf und ging mit Julie vor die Tür. Glücklich, der Werkstatt für eine Weile zu entrinnen, grinste er über das ganze Gesicht, doch seine Miene wechselte zu Bestürzung, als Julie, kaum, dass sie wenige Schritte vom Laden entfernt waren, in Tränen ausbrach. Sie hatte noch nie vor Fédéric geweint, und sogar jetzt war es ihr zutiefst unangenehm, aber sie konnte das Schluchzen nicht zurückhalten. Um ihr Gesicht zu verbergen, legte sie die Stirn an Fédérics Schulter. Nach einem Moment fühlte sie seine Hände auf ihrem Rücken und er zog sie an sich.
    »Was ist passiert?«, fragte er sanft, aber es dauerte einige Zeit, bis Julie wieder sprechen konnte. Sie fühlte sich schwach und zittrig, als sie sich von Fédéric löste.
    »Gib mir mal dein Taschentuch«, sagte sie betont forsch, schnäuzte sich und atmete tief ein. Dann nahm sie ihn am Ärmel und zog ihn in einen Durchgang zwischen den Häusern. Obwohl es muffig roch, waren sie wenigstens ungestört, falls doch jemand vorüberging, und Julie konnte endlich alles erzählen, was in den letzten beiden Tagen geschehen war. Selbst im Halbdunkel konnte sie

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