Prophezeiung der Seraphim
hatte sie oft genug vor reichen Schnöseln gewarnt, deren bevorzugter Zeitvertreib es war, unbedarften Mädchen die Tugend zu rauben. »Lasst mich los!«, fauchte sie und riss ihre Hand mit einem Ruck aus der seinen. »Hat Eure Mutter Euch geschickt?«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Nicolas, ließ aber keine Erklärung folgen. Im Halbdunkel wirkten seine Augen nicht mehr grau, sondern dunkel wie die der Comtesse, und Julie verspürte einen Anflug von Furcht. Unruhig biss sie sich auf die Lippen und überlegte, ob sie sich verletzen würde, wenn sie während der Fahrt aus der Kutsche sprang.
»Was wollt Ihr dann?« Julie verschränkte die Arme. Sie würde sich ihre Angst nicht anmerken lassen. Doch da war noch ein anderes Gefühl, ähnlich dem, als sie an ihrem Geburtstag Fédéric umarmt hatte, nur dass von Nicolas etwas Gefährliches ausging, das sie – obwohl sie es niemals zugeben würde – unwiderstehlich anzog. Er war bereits ein Mann, und er war so anders als die Jungen, die sie kannte. In seinen Augen lag etwas Geheimnisvolles, das sie unbedingt ergründen wollte. Jetzt beugte er sich so weit vor, dass eine helle Haarsträhne, die sich aus seinem Zopf gelöst hatte, ihre Wange kitzelte. Seine plötzliche Nähe verwirrte sie so sehr, dass sie die Augen schloss. Allerdings stieg ihr nun sein Duft in die Nase, was sie noch mehr durcheinanderbrachte. Ärgerlich über sich selbst öffnete sie die Augen wieder und rückte von ihm ab. »Was willst du von mir?«, wiederholte sie, nun duzte sie ihn auch.
»Ich will dich in Sicherheit bringen«, flüsterte er. »Meine Mutter ist hinter dir her.«
Julie zog die Augenbrauen hoch. »Und warum? Sie wird mich kaum zwingen können, ihre Gesellschafterin zu werden.«
»Als ob meine Mutter eine Gesellschafterin bräuchte! Nein, das war nur ein Vorwand. Dahinter verbirgt sich mehr. Sie hat erwähnt, dass sie seit Jahren nach dir sucht. Aber ich bringe dich an einen Ort, wo sie dich niemals vermuten wird.«
»Du wirst mich nirgendwo hinbringen!«
Nicolas zog die Augenbrauen hoch. »Ich werde dein Ritter sein, ist das nicht aufregend?«
»Ganz sicher nicht!« Auch wenn sie einen leisen Kitzel von Abenteuerlust spürte und es etwas durchaus Aufregendes an sich hatte, mit einem gut aussehenden, fremden jungen Mann in einer Kutsche durch das nächtliche Paris zu fahren, war sie nicht so naiv, wie Nicolas anscheinend glaubte.
»Du lockst mich in diese Kutsche, tischst mir irgendwelchen Unsinn auf und erwartest, dass ich mich an einen Ort bringen lasse, den ich nicht kenne? Was sollte deine Mutter mir schon antun wollen?«
Er hob die Schultern. »Sie pflegt mich nicht in ihre Pläne einzuweihen, aber sie hat getobt, weil du heute Morgen nicht mitkommen wolltest. Und sie war völlig außer sich, weil du dich ihrer Magie widersetzen konntest. In deinem hübschen Köpfchen steckt mehr, als man auf den ersten Blick erahnt, oder irre ich mich?«
Julies Herz pochte auf einmal mit doppelter Geschwindigkeit. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
Nicolas beugte sich vor, bis sie seinen Atem auf ihrer Wange spürte. »Ich spreche von einem Talent, von einer außergewöhnlichen Fähigkeit«, flüsterte er. »Nur die stärksten Seraphim können meiner Mutter widerstehen, und ich frage mich, ob du zu ihnen gehörst.«
Julie blinzelte. Magie. Nicolas wusste davon. Trotzdem begriff sie nicht, wovon er redete.
»Seraphim? Was haben Engel damit zu tun?«
»Engel? Nicht das Geringste.« Nicolas lehnte sich zurück und seufzte. »Du hast wirklich keine Ahnung, was du bist, Liebchen?«
Die Formulierung brachte etwas in Julies Gedächtnis zum Klingen. Was du bist – hatte nicht ihre Mutter neulich etwas Ähnliches gesagt?
Als Nicolas weitersprach, war aus seiner Stimme jeder Anflug von Leichtigkeit verschwunden.
»Ich werde dir erzählen, wer die Seraphim sind – dann wirst du mir glauben.«
»Das will ich gar nicht wissen«, unterbrach ihn Julie. »Bring mich nach Hause.« Sie dachte an den von Kerzenschein erleuchteten Salon, wo ihre Eltern jetzt saßen und auf sie warteten. Ihre Mutter würde sich mit ihrem Strickzeug beschäftigen, während ihr Vater in der Enzyklopädie las wie jeden Abend. Was machte es, wenn sie nicht ihre richtigen Eltern waren – sie hatten Julie so viel Liebe geschenkt, dass sie die Lagardes immer als ihre wahren Eltern betrachten würde. »Bring mich nach Hause«, wiederholte sie.
Nicolas hob die Hände. »Wenn du mich angehört hast und immer noch
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