Prophezeiung der Seraphim
Ewigkeit.
Jahrtausendelang herrschten die Seraphim über die Menschen, von denen sie als Götter verehrt wurden, doch mit der Zeit veränderten sie sich und wurden den Menschen immer ähnlicher, bis nur noch ihre magischen Kräfte und ihre Unsterblichkeit sie von denen unterschieden, die sie einst als Götter angebetet hatten. Sie teilten die Welt der Menschen unter sich auf und wurden zu Königen, Heerführern, Gelehrten. Jahrtausende vergingen, und die Menschen vergaßen, wer die Seraphim waren; von nun an wirkten die Unsterblichen im Verborgenen. Nur wenn die Menschheit in Gefahr war, traten sie offen in Erscheinung und bewirkten das, was man als Wunder bezeichnet.
Unfähig, ihr wahres Wesen zu erkennen, nannten die Menschen sie Himmelsboten, Engel, Seraphim. Diese Verehrung brachte einige unter den Seraphim auf den Gedanken, sie sollten wieder über die Menschen herrschen. Es wurden immer mehr, bis Kronos sich schließlich selbst zum Erzengel ausrief. Alle, die sich gegen ihn stellten, erlitten das furchtbarste Schicksal, das einen Seraph treffen kann. Das war vor fünfzehn Jahren. Die sich dem Erzengel anschlossen, nannten sich Erneuerer und zogen sich auf die Insel Mont St. Michel, den alten Stammsitz der Seraphim, zurück. Dort leben sie seitdem unerkannt und schmieden ihre Pläne, um wieder an die Macht zu gelangen. Meine Mutter und Kronos, der sich inzwischen Cal Savéan nennt, sind ihre Anführer.«
»Was ist das für ein furchtbares Schicksal, von dem du gesprochen hast?«, warf Julie ein, die bisher atemlos gelauscht hatte. »Jemanden, der unsterblich ist, kann man doch nicht töten, oder?«
»Es gibt Schlimmeres als den Tod«, erwiderte Nicolas ohne weitere Erklärung und fuhr fort: »Eine andere Legende – oder vielmehr eine Prophezeiung – besagt, dass einst ein geflügelter Seraph kommen wird, der das Tor zwischen den Welten öffnen und Phanes besiegen kann. Den genauen Wortlaut kenne ich nicht, er ist nur wenigen bekannt. Aber Cals Anhänger beschlossen, Kinder zu zeugen, in der Hoffnung, der Erwartete wäre unter ihnen. Ich bin auch so ein fehlgeschlagener Versuch«, fügte er ironisch hinzu. »Die lebende Schande meiner Mutter, weil ich nicht das kleinste Quäntchen Magie in mir habe.«
»Dann bin ich auch so ein … Versuch?«, flüsterte Julie. Sie war nicht in Liebe gezeugt worden, sondern um einen Zweck zu erfüllen? Wie enttäuscht mussten ihre Eltern gewesen sein, dass auch sie keine Flügel besaß! So enttäuscht, dass sie sie weggegeben hatten.
»Gehören meine Eltern denn auch zu diesen Erneuerern?« Obwohl sie danach fragte, fürchtete Julie die Antwort.
»Ich weiß nicht, wer deine Eltern sind. Doch ich denke, meine Mutter weiß es.«
»Aber was will sie von mir?« Julie biss sich wieder auf die Unterlippe, während sie vergeblich versuchte, einen Sinn in all dem zu erkennen.
»Wie ich bereits erwähnte: Meine Mutter pflegt nicht, mich in ihre Pläne einzuweihen«, sagte Nicolas. »Aber eines kann ich dir versichern: Wer darin vorkommt, hat in der Regel nichts Gutes zu erwarten.« Er gähnte, was Julie angesichts ihrer Lage vollkommen unangemessen fand.
Von draußen drangen plötzlich Lärm und entfernte Schüsse in das Innere der Kutsche, und als Julie aus dem Fenster blickte, sah sie über den Dächern der herrschaftlichen Häuser den Widerschein von Flammen. Hatte Mère Haillon doch recht gehabt? Sie hatte die Worte der Alten als Geschwätz abgetan, doch es schien tatsächlich etwas geschehen zu sein. Sie musste an die schwarz-rote Wolke aus Wut und Hass denken, die sie auf dem Kirchplatz über den Köpfen der Menge gesehen hatte. Aber darüber konnte sie sich im Augenblick keine Gedanken machen. Sie ließ den Vorhang zurückfallen und wandte sich wieder Nicolas zu.
»Und du? Warum warnst du mich?«, fragte sie und sah ihm dabei in die Augen. Sie erwartete eine spöttische Antwort, doch in seinem Gesicht spiegelte sich die Verletztheit vieler Jahre, als er antwortete. »Weil meine Mutter mich jeden einzelnen Tag meines Lebens spüren lässt, wie sehr sie mich verachtet. Und ich ihr alles heimzahlen werde, was sie mir je angetan hat. Ich will sehen, wie all ihre Pläne scheitern, was immer sie vorhat.« In seiner Stimme lag solche Bitterkeit, dass Julie schlucken musste.
Er räusperte sich und fuhr im Plauderton fort: »Und außerdem helfe ich dir, weil du so schöne blaue Augen hast. Deshalb schlage ich vor, dass wir die nächste Postkutsche besteigen, die uns an die
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