Dunkelheit soll dich umfangen: Thriller (German Edition)
Prolog
Der Traum riss sie kurz vor Sonnenaufgang aus dem Schlaf. Vanessa Abbott rang nach Luft, und ihr Herz klopfte wild. Im Schlafzimmer war es dunkel, bis auf den schwachen Schein eines Nachtlichts in der Nähe der Tür.
Sie setzte sich auf, fuhr nervös mit den Fingern durch ihr zerzaustes, schulterlanges dunkles Haar und schaute auf ihren Wecker. Kurz vor sechs. Sie schaltete den Alarm aus, der in einer halben Stunde losgehen würde.
Es hatte keinen Sinn, dass sie versuchte, noch einmal einzuschlafen. Ihr Herz schlug viel zu schnell, und Angst schnürte ihr die Kehle zu.
Vanessa schlüpfte aus dem Bett und griff nach dem Bademantel, der am Fußende lag, warf ihn sich über in der Hoffnung, dass der weiche Frotteestoff ein wenig von der Kälte aufsaugen würde, die der Traum in ihr hinterlassen hatte, und verließ das Zimmer.
Sie ging ein kleines Stück den Flur hinunter und ins Kinderzimmer, in dem ein Nachtlämpchen sein gedämpftes Licht verbreitete.
Johnny lag zusammengerollt auf der Seite. Er lächelte im Schlaf. Wahrscheinlich träumte er etwas Schönes. Alle Zehnjährigen sollten glückliche Träume haben, dachte Vanessa. Auch wenn es eine Zeit gegeben hatte, in der sie fürchtete, ihr Sohn werde niemals mehr etwas Schönes träumen.
Sie unterdrückte den Impuls, ihm einen Kuss auf die Stirn zu geben, um die beruhigende Wärme seiner Haut zu spüren. Johnny musste erst in einer Stunde aufstehen, und sie wollte ihn nicht früher wecken, nur um ihre mütterlichen Bedürfnisse zu befriedigen.
Stattdessen ging sie hinunter in die Küche. Sie schaltete das kleine Licht über dem Herd ein, um sich einen Kaffee zu machen.
Während sie wartete, dass das Wasser durchlief, saß sie am Küchentisch und betrachtete den Himmel, dessen nächtliches Dunkel sich langsam in ein frühmorgendliches Grau verwandelte.
Vanessa zog ihren Bademantel fester um sich und redete sich ein, dass nicht die Rückkehr des Traums sie frösteln ließ, sondern der ständige Luftzug in ihrem alten, zweigeschossigen Haus.
Erst als sie eine Tasse Kaffee vor sich hatte, fand sie den Mut, an die Bilder zu denken, die sie aus dem Schlaf gerissen hatten.
Es war immer dasselbe. In dem Traum stand sie auf einer Terrasse, über die Kanadagänse hinwegflogen. Zuerst waren es nur ganz wenige, die mit sanftem Flügelschlag gen Süden zogen. Dann wurden es immer mehr, und sie schoben sich mit ihren kräftigen Körpern und breiten Flügeln vor die Sonne, verwandelten den helllichten Tag in dunkle Nacht. Und schrien plötzlich so laut und misstönend, dass Vanessa Angst hatte, verrückt zu werden.
Immer, wenn der Himmel schwarz von Gänsen war, wenn Vanessa fürchtete, der Lärm könnte ihr den Verstand rauben, immer dann wachte sie auf, und das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Sie legte die Hände um die warme Kaffeetasse und starrte aus dem Fenster. Dreimal in ihrem Leben hatte sie diesen Traum bisher geträumt. Das erste Mal, sie war zehn gewesen, an dem Tag, als ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen.
Das zweite Mal, sie war bereits auf dem College, erhielt sie am Morgen nach dem Traum einen Anruf mit der Nachricht, dass ihr Großvater, der sich nach dem Tod der Eltern um sie gekümmert hatte, an einem Herzinfarkt gestorben war.
Das letzte Mal hatte sie den Traum vor zwei Jahren gehabt. Sie war im Morgengrauen aufgewacht und hatte feststellen müssen, dass ihr Mann nicht neben ihr im Bett lag. In dem Moment wusste sie, dass etwas Schreckliches passiert war.
Dieses Schreckliche war furchtbarer gewesen als alles, was sie sich hätte vorstellen können. Als die Polizeibeamten vor ihrer Tür standen, erlebte sie das in ihrem Traum prophezeite Grauen in der Realität.
Man hatte Jims Auto auf der Broadway Bridge gefunden. Auf dem Fahrersitz hatte ein Zettel gelegen, und ein Zeuge gab an, gesehen zu haben, wie ein Mann von der Brücke in die kalten, trüben Fluten des Missouri River gesprungen war. Auf dem Zettel stand nur: Vergib mir. Ich kann nicht mehr. Als ob das irgend etwas erklärt hätte. Als ob das eine Rechtfertigung gewesen wäre.
Jim wurde nie gefunden. Es war, als hätte der Fluss ihn verschluckt. Die Polizei erklärte Vanessa, das sei nichts Ungewöhnliches; es komme oft vor, dass der Missouri sich weigere, seine Beute wieder herauszugeben.
Sie und Johnny hatten den schweren Schicksalsschlag irgendwie überlebt. Die liebevolle Unterstützung von Jims Familie und ihre eigene innere Stärke hatten Vanessa geholfen, diese
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