Prophezeiung der Seraphim
zeugten davon, dass er älter war, als er aussah. Julie starrte ihn an: Sie wusste nicht, was mit ihm nicht stimmte, aber etwas an ihm beunruhigte sie.
Als der Dicke nun wieder das Wort ergriff, hatte Julie das Gefühl, als packte jemand sie im Genick.
»Ich habe gehört, des Königs erster Berater sei ein gewisser Cal Savéan«, sagte er. »Wenn der das Lumpenpack in seine Schranken weist, applaudiere ich ihm. Der König tut gut daran, auf ihn zu hören, und nicht auf diesen de Marmande mit seinen neumodischen Ansichten.«
»Der Herzog?«, fragte sein Gegenüber. »Wisst Ihr noch nicht, dass den der Schlag getroffen hat? Er redet nur noch Unsinn und erinnert sich nicht einmal mehr an seinen eigenen Namen.«
»Der neue Geist ist nicht aufzuhalten.« Der jüngere Mann drehte sich nun ganz herum und sah den beiden Männern an Julies Tisch in die geröteten Gesichter. »Übrigens wissen die einfachen Leute sehr genau, was sie wollen. Sie kämpfen für Brot und ein Leben, das es wert ist, so genannt zu werden. Und Leute wie ihr wollen ihnen das vorenthalten. Doch seid versichert: Lange wird es nicht mehr dauern, dann wird kein Bauer sich mehr vor euch Fettwänsten verneigen, wenn ihr vorüberreitet.«
»Unverschämtheit!« Der Schulmeister sprang auf und zog seinen Degen. Rundherum rutschten die Leute beiseite und schufen Platz für die drei Streitenden. Auch der Dicke hatte seine Waffe gezogen, aber er schwankte so sehr, dass er kaum eine Gefahr darstellte – zudem war ihm seine Perücke halb über die Augen gerutscht.
Julie war noch immer wie erstarrt. Es war, als wäre ihr Vater erst jetzt Wirklichkeit, nachdem sie seinen Namen öffentlich gehört hatte. Es gab ihn, und auch andere Menschen wussten davon! In diesem Augenblick mochte er sich beim König befinden, ganz in ihrer Nähe.
»Vorsicht, Julie!«, rief Fédéric, packte ihre Schultern und drückte sie auf die Sitzbank. Über ihnen krachte ein Hocker gegen die Wand, prallte ab und polterte über den Tisch. Sie hörte Zinnteller und Löffel auf die Dielen scheppern, während sie Fédéric, der über ihr lag und sie mit seinem Körper schützte, in die Augen sah. Es war ein seltsamer Augenblick der Stille, während um sie herum Leute aufgeregt riefen, Stühle über den Boden scharrten und der Wirt lautstark versuchte, die Streithähne zu beruhigen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Fédéric. Julie nickte und ächzte. »Aber noch besser würde es mir gehen, wenn du mich nicht zerquetschst, Guyot!«
»Oh, entschuldige!« Er stemmte sich hoch, half ihr, sich aufzurichten und zog sie hinter dem Tisch hervor zum Ausgang.
Doch Julie blieb stehen und suchte die Menge ab, die sich um die Kämpfer zusammenballte. Wo war der geheimnisvolle Reisende? Da war etwas an ihm gewesen, das sie nicht losließ.
»Los, komm!«, drängte Fédéric, doch Julie schüttelte den Kopf. Sie drängte sich sogar nach vorne, wo sich der Schulmeister und der jüngere Mann mit erhobenen Degen umkreisten. Die anderen Gäste hatten einen dichten Ring um sie geschlossen, feuerten sie an und begannen, Wetten auf den Sieg abzuschließen.
»Hier wird es gleich ungemütlich, verschwinden wir lieber.« Fédéric nahm Julies Hand. Da sie den Reisenden nirgendwo entdecken konnte, folgte sie ihm. Nicolas stieß zu ihnen, aber wo war Ruben? Vielleicht war er schon hinausgeschlüpft? Vor ihnen drängten bereits andere Gäste auf den Ausgang zu, gleichzeitig schoben sich Neuankömmlinge, die wohl von dem Geschrei im Gasthaus angelockt worden waren, nach drinnen, sodass die Tür hoffnungslos verstopft war.
»Dort rüber!«, rief Nicolas und wies auf die Treppe, die im hinteren Teil des Raumes zu einer Galerie führte, wo sich wahrscheinlich Gästezimmer befanden. Sich gegen den Strom zu wenden, war schwieriger als gedacht. Die drei steckten Knüffe ein und es hagelte Beschimpfungen, bis sie endlich die Holzstufen erreichten und sich nach oben retten konnten.
Auch hier drängten sich bereits Schaulustige, denn von hier hatte man einen guten Blick über das Geschehen. Nachdem sich Julie versicherte hatte, dass Songe noch bei ihr war, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Kämpfenden. Im Moment tanzte der Wirt, ein dünner, großer Mann, um sie herum, raufte sich die wenigen Haare und flehte sie an, ihren Zwist vor der Tür auszutragen, aber niemand hörte ihm zu.
Erneut suchte Julie mit den Augen den Gastraum ab. Sie hatte nach wie vor dieses unruhige Gefühl, als wäre ihr ein wichtiges Detail
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