Prophezeiung der Seraphim
entgangen. Dann sah sie den Reisenden: Er saß noch immer an seinem Platz und nippte gelassen an seinem Wein. Unten hatte Julie ihn nicht sehen können, weil die Zuschauer ihn verdeckt hatten. Woher kannte sie ihn bloß? War er vielleicht ein Kunde Jacques Lagardes gewesen? Und auf einmal wusste sie, was mit ihm nicht stimmte. Wie hatte sie das übersehen können? Julies Magen hob sich, die Dielen unter ihr schwankten wie ein Schiffsdeck. Sie wollte gerade Nicolas auf den Mann aufmerksam machen, da begann der Kampf.
Der junge Mann führte den ersten Hieb. Der Schulmeister war ausgewichen, obwohl man sehen konnte, dass er nicht gewohnt war zu kämpfen. Er bewegte sich nur schwerfällig und hieb mit dem Degen wie mit einer Axt durch die Luft. Sein jüngerer Gegner war ihm weit überlegen. Julie umklammerte das Geländer, und obwohl sie zitterte, konnte sie den Blick nicht abwenden. Was dann geschah, ereignete sich so schnell, dass es bereits vorüber war, bevor es Julie oder irgendjemand sonst im Raum begriff. Der Reisende hatte seinen Becher abgestellt, unter seinem Umhang einen Degen hervorgezogen, war aufgestanden, hatte die Zuschauer beiseitegeschoben und seine Klinge mit solcher Selbstverständlichkeit in den Bauch des jüngeren Mannes gestoßen, als spießte er ein Brötchen auf .
Der Verletzte krümmte sich zusammen und röchelte. Als er nach hinten fiel, glitt der rot gefärbte Degen aus seinem Leib. Einen Moment lang saß er noch mit verdutztem Gesichtsausdruck auf dem Boden, dann fiel er zur Seite. Mit ausdrucksloser Miene wischte der Reisende seine Waffe am Hemd des Verletzten ab, steckte sie in die Scheide und verschwand zwischen den Zuschauern.
Es herrschte vollkommene Stille, die Leute wichen ängstlich vor ihm zurück. Als er fort war, stürzten sich mehrere Leute auf den Verletzten, doch sie würden ihm nicht mehr helfen können, seine Aureole war beinahe verloschen.
Songe, hast du den Mann in dem braunen Umhang bemerkt?
Ja, er hat Magie benutzt.
In diesem Moment nahm Fédéric Julie leicht bei den Schultern und drehte sie zu sich. »Alles in Ordnung? Du bist ganz weiß im Gesicht.«
Julie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. »Der Mann mit dem Degen hatte keine Aureole – er ist ein Seraph.«
»Rizinus und Mäuseköttel! Sind sie uns schon so dicht auf den Fersen?«
Ich denke nicht, dass er wegen uns hier war, sagte Songe.
Julie war derselben Meinung. Der Seraph hatte sie kein einziges Mal angesehen, seine Anwesenheit war reiner Zufall gewesen. Sie blickte wieder hinunter in den Gastraum. Man hatte den jungen Mann auf eine Bank gelegt und ihm Weste und Hemd aufgeknöpft. Blut quoll aus der winzigen Wunde, die der Degen verursacht hatte. Sein Gesicht war unnatürlich blass, und er gab keinen Laut von sich.
»Was macht dein Bruder denn da?« Fédéric zeigte auf Ruben, der sich durch die Gaffer drängte. Jetzt kniete er sich neben dem Verletzten nieder und legte ihm die Hand auf den Bauch. Julie begriff nicht gleich, was er tat, doch dann erschien ein rötliches Glühen zwischen seinen Fingern.
»Ruben, nein! Das darfst du nicht!«
Ihr Schrei erreichte ihn, er drehte den Kopf, ließ aber seine Hand, wo sie war.
»Dieser Idiot!« Nicolas setzte in großen Sprüngen die Treppe hinab, stürzte sich auf Ruben und riss ihn von dem Mann weg.
»Er stirbt sonst!«, rief Ruben und sträubte sich mit aller Kraft gegen Nicolas’ Griff.
Auch Julie flog förmlich die Treppe hinunter. Sie musste verhindern, dass die beiden noch mehr Aufmerksamkeit erregten. »Sofort aufhören!« Sie zerrte an Nicolas’ Handgelenk.
»Er lockt meine Mutter auf unsere Spur!«
»Ruben, er hat recht. Du darfst deine Kräfte nicht benutzen, sonst hetzt Nicolas’ Mutter die Cherubim auf uns.«
Ruben machte ein trotziges Gesicht. »Ich kann ihn nicht sterben lassen, verstehst du das denn nicht?«
Julie sah auf den Verletzten hinunter. Er hatte wieder Farbe im Gesicht und stöhnte leise. »Du hast ihm schon geholfen.«
Nicolas ließ Rubens Arm los. »Wegen dir werden wir sterben, du Schwachkopf!«
Ruben rieb sich den Oberarm und knurrte: »Ich nicht.«
Julie erkannte ihren Bruder kaum wieder. Sein Gesicht war verzerrt und er schien sich jeden Moment auf Nicolas stürzen zu wollen.
»He, er ist wieder bei Bewusstsein!«, rief einer der Gäste und schob dem Verletzten einen Arm unter den Nacken. »Gebt ihm Wein!«
Julie atmete auf. Obwohl die Aufmerksamkeit der übrigen Gäste immer noch auf den Verletzten
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