Prophezeiung der Seraphim
betäuben.
»Aber wie sollen wir herausfinden, welche Art von Magie sie besitzen, wenn wir es nicht ausprobieren dürfen?«
Songe kam nicht dazu, zu antworten, denn vor dem Stall waren Geräusche zu hören. Julie erstarrte. Nur ihre Augen bewegten sich und wanderten zur Holztür, die im Dämmerlicht nur zu ahnen war. Nun scharrte es an den Brettern. Der Riegel klapperte. Die Ziegen meckerten ängstlich. Julie presste die Hand auf den Mund, darauf gefasst, dass jeden Augenblick ein Cherub durch die Tür brechen würde.
Die Tür des Verschlags öffnete sich, Julies Herz gefror.
»Ich bin es«, flüsterte Nicolas.
Julie stieß den Atem aus, den sie, ohne es zu merken, angehalten hatte. Sie kroch Nicolas entgegen, der sich mit einem Stöhnen durch die Tür schob und ins Stroh fiel. Selbst im schwachen Licht sah er furchtbar aus: das helle Haar war schweißverklebt, sein Gesicht mit Erde verschmiert, das Hemd am Ärmel zerfetzt.
Ruben schob die Ziegen hinaus, um Platz zu schaffen.
»Was ist passiert?« Julie war auf einmal ganz ruhig. Nicolas war zurück, alles andere war in diesem Moment unwichtig.
Er grinste mühsam. »Haben mich nicht gekriegt«, sagte er stockend und schloss die Augen. Julie schlug die Hand vor den Mund: Erst jetzt sah sie, dass Nicolas’ Arm von der Schulter bis zum Ellbogen zerfleischt war.
»Heiliger Kuhfladen!«, rief Fédéric und kniete sich neben Julie nieder, wühlte in seiner Umhängetasche und zog einen Kerzenstummel und Feuerstahl hervor. Im Licht der Kerze sah die Wunde noch schlimmer aus.
Julie wurde schlecht, sie riss sich aber zusammen. »Hier muss es doch Wasser für die Ziegen geben!« Sie sah sich um und entdeckte in einer Ecke einen Eimer. Das Wasser sah einigermaßen sauber aus, abgesehen von einigen Insekten und Strohhalmen, die darin schwammen. Sie tauchte einen Rockzipfel hinein, wischte Nicolas so gut es ging den Dreck vom Gesicht und benetzte auch seine Lippen. Er atmete jetzt nur noch flach und regte sich nicht, nur gelegentlich stöhnte er.
»Er stirbt doch nicht, oder?«, flüsterte sie.
Angst presste ihr den Brustkorb zusammen. Bisher hatte sie gewusst, dass ihr Vorhaben gefährlich war, aber wie sehr, begriff sie erst jetzt.
»Wir können nur abwarten«, sagte Fédéric, riss einen Streifen von Nicolas’ ohnehin ruiniertem Hemd und wickelte ihn um die Wunde. »Wenn er kein Fieber kriegt, kommt er vielleicht durch.«
»Das habe ich gehört«, murmelte Nicolas.
»Dann weißt du ja jetzt, wie es um dich steht.«
»Ich kann ihn heilen«, sagte Ruben, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. Seine Augen glänzten im Kerzenschein. »Es dauert nur ein paar Minuten, dann geht’s ihm wieder gut.«
»Hast du es immer noch nicht kapiert? Bist du denn völlig hohl in der Birne?« Fédéric tippte sich an die Stirn.
Es könnte gelingen, sagte Songe. Wenn er seine Kraft zügeln kann.
Julie sah zuerst auf Songe, dann auf Nicolas hinunter. Wenn er keine Hilfe bekäme, würde er sterben, das spürte sie. »Also gut«, sagte sie entschlossen zu Ruben. »Songe findet, du solltest es versuchen. Aber du darfst nur ganz wenig von deiner Heilkraft benutzen, nur so viel, dass er nicht stirbt. Schaffst du das?«
Ruben nickte, und Julie rückte zur Seite.
Sie sah, dass er seine Hand nicht auf die Wunde, sondern auf Nicolas’ Brust legte. Ihr Bruder schloss die Augen und schon lief ein schwaches Glühen um seine Hand herum. Schweiß rann ihm über das Gesicht vor Anstrengung, seine Magie unter Kontrolle zu halten. Nach wenigen Augenblicken zog er seine Hand weg.
»Ich hab ihm nur ganz wenig meiner Kraft übertragen …, hoffentlich genug, um zu überleben.«
Julie nahm Nicolas’ Hand zwischen ihre und rieb sie, als könnte auch sie ihm von ihrer Lebenskraft abgeben. Mit einem Blick dankte sie ihrem Bruder und bat zugleich um Verzeihung.
»Welch Unglück für dich, Fédéric.« Nicolas’ Stimme war kaum zu hören, aber er lächelte.
»Schon recht«, sagte Fédéric großmütig. »Hast ja gerade deinen Arsch für mich riskiert, da kann ich dich noch eine Weile ertragen.«
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Unterwegs,Juli 1789
N ach dem Angriff der Cherubim achteten sie noch mehr darauf, nicht in die Nähe von Ansiedlungen zu geraten und stets im Schutz der Bäume zu bleiben, damit sie von oben nicht auszumachen waren. Nicolas hatte ihnen erzählt, wie er die Ungeheuer in die Irre geführt hatte und wie sie anschließend in Richtung Paris davongeflogen waren. Es war unwahrscheinlich, dass sie
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