Proust 1913
würden, Agostinelli sei mein Sekretär, kurz, dass Sie zu niemandem von ihm sprechen würden. Falls es unter unseren gemeinsamen Freunden einen gibt, mit dem Sie darüber gesprochen haben oder der zu Ihnen darüber gesprochen hat, wäre es sehr nett von Ihnen, es mir zu sagen, damit ich es weiß und mich darauf einrichten kann.« In der Folge geht es um Spekulationen: »Ich habe einen Freund, der vor kurzem bei ziemlicher Hausse Utah Copper und Spassky gekauft hat. Ich erzählte ihm, ich kenne jemanden, der sich bei diesen Papieren gut auskennt und den ich fragen würde, bei welchem Kurs er verkaufen soll. […] Bei welchem Kurs fänden Sie es klug zu handeln?« ( XII , 242 ) Möglicherweise hat der Adressat einiges, was uns verschlossen bleibt, verstanden; gewiss ist aber auch ihm klar geworden, wie es um seinen Bekannten steht. In einem weiteren Brief, »einem P.S. zu jenem, den ich Ihnen vor acht oder zehn Tagen geschrieben habe« ( XII , 252 ), wiederholt Proust seine Frage zum Verkauf der Utah-Copper- und der Spassky-Aktien. Wie die »in Paris zurückgelassene Person« ist der »Freund, der vor kurzem …« nur eine vorgeschobene Person. Diesmal geht es um Proust selbst, der sich wohl ein weiteres Mal verspekuliert hat. Dass es ihm auch sonst schlecht geht, zeigt der Schluss des Briefes: »Ich breche hier ab, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel seelischen Kummer, wie viel materielle Schwierigkeiten, wie viele physische Leiden und literarische Scherereien ich habe.« ( XII , 252 ) Die Bitte, nicht von Agostinelli zu sprechen, richtet Proust auch an Albert Nahmias: »Vermeiden Sie es, von meinem Sekretär (Ex-Chauffeur) zu sprechen. Die Leute sind so dumm, dass sie darin (wie sie es in unserer Freundschaft taten) etwas Päderastisches sehen könnten. Mir selbst wäre das egal, aber ich möchte diesem Jungen nicht schaden.« ( XII , 249 ) In der Meinung, ihm damit gewiss nicht zu schaden, tut Proust, nach Paris zurückgekehrt, alles, um diesem Jungen zu gefallen und ihn an sich zu binden. An d’Alton schreibt er am 3 . September: »Ich habe mir den Bart schneiden lassen, um zu versuchen, mein Gesicht etwas zu verändern und der Person, die ich wiedergefunden habe, zu gefallen.« ( XII , 269 ) Offensichtlich erinnert er sich nicht daran, die »in Paris zurückgelassene Person« nicht gegenüber d’Alton, sondern gegenüber de Lauris vorgeschoben zu haben. Doch d’Alton hat sicher verstanden, dass Prousts Bart Agostinelli geopfert wurde. Außerdem nehmen die Geldgeschenke an Agostinelli und dessen Gefährtin ein solches Ausmaß an, dass Proust im Oktober, um die Wohnungsmiete bezahlen zu können, die Hälfte seiner Royal-Dutch-Aktien verkaufen muss. Und da Agostinelli offenbar an der Schreibmaschine, die Proust für ihn angeschafft hat, weniger Gefallen findet als an anderen Errungenschaften der Technik und höher hinaus will, ermöglicht ihm Proust, sich im November auf dem Flugplatz Buc in die Fliegerschule Blériot einzuschreiben. Die 800 Francs Kursgeld und die 1500 Francs Kaution sind allerdings wenig im Vergleich zu den 270 000 Francs, die das von Proust für Agostinelli bestellte Flugzeug kostet. Eine weitere Fehlspekulation!
Kommentarlos verlässt Agostinelli mit Anna am 1 . Dezember Paris und kehrt nach Nizza zurück. Proust ist bis ins Innerste getroffen: »Entschuldigen Sie, mich trifft ein Unglück, das alles, was mein Buch angeht, weit hinter sich lässt« ( XII , 356 ), schreibt er kurz danach an Louis de Robert. Und etwas später an Gabriel Astruc: »Ich erlebe im Augenblick die seit dem Tod meiner Mutter schmerzlichste Zeit meines Lebens.« ( XII , 387 ) Gleichzeitig aber ist Proust außer sich; er handelt, als sei er eine Romanfigur, was es ihm später erleichtert, seine Handlungen in seinen Roman zu übertragen: Bei Albert Nahmias erkundigt er sich zuerst nach Adressen von Bespitzelungsagenturen; dann schickt er Nahmias selbst in den Süden mit dem Auftrag, dem Vater Agostinellis Geld anzubieten, wenn es diesem gelingt, seinen Sohn zur sofortigen und unbedingten Rückkehr nach Paris zu überreden. Die Telegramme an Nahmias zeugen von Prousts Zustand. Nach einer Woche wird die Übung abgebrochen. Nahmias kehrt nach Paris zurück, Agostinelli bleibt im Süden, wo er sich unter dem Namen Marcel Swann bei der Fliegerschule der Brüder Garbero in Antibes einschreibt. Am 30 . April 1914 stürzt er bei seinem zweiten Flug über dem Mittelmeer ab und kommt ums Leben.
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