Proust 1913
Übergang
Wie Titel, Incipit, Eingangs- oder Schlussszenen und Pointen gehören auch die Übergänge zu jenen kompositorischen Elementen, mit denen sich Proust während der letzten Arbeitsphase vor der Publikation von
Du côté de chez Swann
besonders intensiv auseinandersetzt. Der Übergang von der Ouvertüre zu der ersten Erzählsequenz, dem Drama des Zubettgehens, erfolgt durch die einfache Wiederholung von »in Combray«; der mit einem Perspektivenwechsel verbundene Übergang von der ersten Erzählsequenz (mit begrenzter Sicht auf Combray) zu einer zweiten (mit umfassender Sicht auf Combray) vollzieht sich mit der Madeleine-Episode; dem Übergang vom ersten Teil (»Combray«) zum zweiten Teil (»Un amour de Swann«) gibt Proust erst bei der Korrektur des zweiten Laufs seine endgültige Form. Ein erster Hinweis auf die Erzählung von Swanns Liebe zu Odette findet sich am Schluss der Ouvertüre: »[…] ich verbrachte den größten Teil der Nacht damit, an unser Leben von früher zurückzudenken, in Combray bei meiner Großtante, in Balbec, in Paris, in Doncières, in Venedig und anderswo, mir die Stätten in Erinnerung zu rufen, die Menschen, die ich dort gekannt, was ich von ihnen gesehen und was man mir von ihnen erzählt hatte.« (
Unterwegs zu Swann,
15 ) Auch bei der Wiederaufnahme der Eingangssituation am Schluss des ersten Teils ist von einer »Liebesaffäre Swanns […], die sich vor meiner Geburt abspielte« (
Unterwegs zu Swann,
272 ) die Rede, doch dann geht es nach »Zweiter Teil/Eine Liebe Swanns« unvermittelt weiter mit: »Um zum ›kleinen Kreis‹, der ›kleinen Gruppe‹, dem ›kleinen Clan‹ der Verdurins zu gehören […].« (
Unterwegs zu Swann,
274 ) Solch ein unvermitteltes Einsetzen der Erzählung hat Proust schon in der Laterna-magica-Episode erprobt. Dort heißt es nicht: Ich sah, wie Golo ruckweise und Schreckliches sinnend aus dem dreieckigen Wäldchen herausgeritten kam, sondern ganz direkt: »Ruckweise und Schreckliches sinnend kam Golo aus dem dreieckigen Wäldchen herausgeritten.« (
Unterwegs zu Swann,
16 ) Parallel dazu heißt es zu Beginn des zweiten Teils nicht: Man hat mir erzählt, dass um zu dem kleinen Kreis der Verdurins zu gehören …, sondern: »Um zum ›kleinen Kreis‹, der ›kleinen Gruppe‹, dem ›kleinen Clan‹ der Verdurins zu gehören […].« In Anlehnung an den Begriff der erlebten Rede könnte man von erlebter Erzählung sprechen. Ursprünglich aber begann der zweite Teil mit einer längeren Passage, die als eigentliches Bravourstück gelten kann. Dieses beginnt so: »Es verhielt sich mit Monsieur und Madame Verdurin wie mit gewissen unbekannten, aber geräumigen Plätzen Venedigs, die der Reisende eines Abends auf einem Spaziergang zufällig entdeckt und auf die kein Führer ihn je aufmerksam gemacht hat.« (Pléiade, I, 1193 ) Man folgt dem Reisenden, sieht Venedig im Mondschein mit seinen Kanälen, seinen Calli, seinen an orientalische Märchen erinnernden Palästen, und tags darauf gelingt es nicht, den verborgenen Platz wiederzufinden. Dann geht die Erzählung über zu der verborgenen Pracht der Verdurins, die an der Küste die schönste Villa und in Versailles die beste Hotelsuite gemietet haben, dabei aber bis auf einige Nennungen in der Klatschpresse im Dunkeln bleiben. Es folgt der jetzige dritte Abschnitt: »Die Verdurins luden nicht zum Abendessen ein, man hatte bei ihnen sein ›Gedeck‹.« (
Unterwegs zu Swann,
275 ) So wird der Leser über ein ausführliches Bild und einen ausholenden Vergleich zu den Verdurins herangeführt. In dieser Fassung führt ein sanfter Übergang vom ersten zum zweiten Teil von
Swann.
Während der Korrektur des zweiten Laufs dann entscheidet sich Proust für eine harte Fügung. Bei der Version des Typoskripts fühlt man sich um zehn Jahre in Prousts Ruskin-Zeit zurückversetzt, als er zusammen mit seiner Mutter Venedig besuchte und zusammen mit seinen Freunden zu anderen Ruskin-Stätten wallfahrte. Eine vergangene Zeit scheint auf. Doch dann werden die Reminiszenzen an eine frühere Zeit mit Ruskin und mit der Mutter ebenso gestrichen wie zuvor am Ende der Laterna-magica-Episode die Apostrophe an den Schmetterlingsflügel und die elegische Anspielung auf den Tod der Mutter. In
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