Psychologische Homöopathie
Mercurius so eng mit Hermes verwandt ist. Dieser mag zwar ein mutwilliger Herumtreiber sein, der nicht stillhalten kann, aber er ist der auserwählte Vermittlerzwischen der Welt der Götter und der Welt der Menschen. Er ist ein Amphibium, gleichermaßen zu Hause in den Wassern der Unterwelt wie auf dem trockenen (rationalen) Land. Anders als China, die völlig in ihre inneren Welten abtauehen kann und dabei den Kontakt mit dieser Welt verliert, ist Mercurius im allgemeinen die meiste Zeit hier. Aber er ist durchaus fähig, in die Tiefe hinabzugleiten (oder sich in die Höhe zu schwingen) für einen schnellen Trip ins Niemandsland, ins Land der Träume oder in tiefere, mehr transzendente Bereiche. Das ist es, was dem merkurischen Dichter seine Tiefe gibt. Es kann auch eine Art von Besessenheit sein, indem irrationale oder symbolische Inhalte ungerufen in den Geist von Mercurius eindringen, obwohl er das lieber vermeiden würde. Das folgende Gedicht eines jungen Mercurius-Poeten illustriert das:
erstaunlich wie viele unbewußte symbole man in der
küche findet
alle lebendig und wohlauf
aber seltsam unwirklich
ich gestehe
ich habe mich abgewandt als ich die zeichen sah
mich wirklich gewehrt gegen ihr eindringen
Jungs kobolde
Fausts dämonen
theaterspielende urgewalten aus den tiefsten tiefen
der gehirne von gott weiß wem
ich schere mich nicht drum
solange sie mich anderes tun lassen
als diese monster zu füttern
ich denke ich schrubbe diesen topf noch einmal
Dieser Dichter zieht es vor, ohne Interpunktion zu schreiben, die den freien Fluß des Bewußtseins von Mercurius wahrscheinlich behindert. Außerdem ordnet er seine Worte gerne in Mustern an, die ins Auge fallen. Diese Kombination von verbaler und visueller Kreativität ist bei Mercurius-Künstlern ziemlich verbreitet.
Der Dichter, der die obigen Zeilen schrieb, ist sehr jung und sieht noch jünger aus. Er ist eine typische Mercurius-Erscheinung mit langen, schlaksigen Gliedmaßen und gnomenhaften Gesichtszügen. Im Gespräch ist er schrullig und sprunghaft, in der einen Minute ernsthaft, in der nächsten kindischalbern. Er erzählte mir eine Geschichte, die auf frappierende Weise beides erhellt, sowohl die mediale Offenheit von Mercurius als auch die ihm innewohnende Neutralität, sein Potential, für Gott oder den Teufel offen zu sein. (Ich wollte gerade schreiben »Gut und Böse«, aber irgendein Kobold in der Maschine schrieb »Gott und das Böse«, und daraus wurde dann »Gott und der Teufel«. So wirkt Merkur, indem er unserem Verstand mit bedeutungsvollen Wortspielen ein Bein stellt.) Er erzählte mir, daß er einmal während seiner Meditation spürte, wie eine andere Wesenheit von ihm Besitz ergriff. Es war eine sehr seltsame Erfahrung, weil er nicht daran gewöhnt war, besessen zu sein. Er empfand diese Wesenheit als mächtig und böse. Sie übernahm die Kontrolle über seine Gedanken und seinen Körper und ließ ihn als hilflosen Zeugen zurück. Er erlebte, wie diese Wesenheit unsere Welt fasziniert betrachtete und voller Schadenfreude daran dachte, wie er sie benutzen und unterwerfen würde. Sein Körper ging aus dem Haus und sah die Straße draußen. Er konnte fühlen, wie die fremde Wesenheit den Gedanken genoß, diese neue Welt vor ihren Augen zu manipulieren. Dann ging er/gingen sie zurück ins Haus und sagten zur Freundin des Dichters: »Er kommt nicht zurück.« Sie war erschrocken, weil sie den bösen Blick in den Augen ihres Partners gesehen hatte, war jedoch geistesgegenwärtig genug zu fordern: »Ich will ihn aber zurückhaben!« Überraschenderweise sagte der Geist: »O. k.«, ging zurück ins Schlafzimmer, setzte sich hin und verschwand. Zurück blieb der Dichter, der seinen Körper und Geist wieder unter Kontrolle hatte und wie zuvor mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett saß. Nun wäre das allein schon außergewöhnlich genug gewesen, aber was jetzt folgt, vervollständigt das Bild einer merkurischen Besessenheit perfekter, als wenn ich es mir selber ausgedacht hätte. Kaum fühlte unser junger Dichter sich von der bösen Macht befreit, ergriff ein anderer Geist Besitz von ihm. Dieser war völlig verschieden von dem ersten. Er fühlte sich rundum gut und weise an. Er blieb ein paar Minuten, und während dieser Zeit lehrte er den Dichter viele Dinge. Letzterer stellte fest, daß er mit dem Neuankömmling ungehindert sprechen konnte und daß der Geist jede Frage sofort beantwortete. Interessant war dabei die Form der
Weitere Kostenlose Bücher