Psychologische Homöopathie
nicht mehr auf sie verlassen. Das erinnert an die schlechte Beziehung, die Mercurius zu seinem Körper hat. Sehr oft ignoriert er die Bedürfnisse seines Körpers und tut statt dessen, wozu er gerade Lust hat. Vielleicht ernährt er sich schlecht, bleibt abends lange auf, um Videos anzusehen, und treibt keinen Sport. Es ist anstrengend für ihn, sich mit seinem Körper zu verbinden, wenn es nicht gerade um bestimmte Spiele geht, die ihm genügend Spaß machen. Weil er auf seinen Körper so wenig Rücksicht nimmt, zahlt er dafür am Ende oft den Preis in Form von Erschöpfung, immer wieder auftretenden oder chronischen Infektionen oder ernsteren Krankheiten wie beispielsweise Herzbeschwerden.
Die Cleverneß von Mercurius kann sehr banal sein. Sein Geist scheint ständig in Bewegung und stellt Verbindungen zwischen Dingen her, die offensichtlich nichts miteinander zu tun haben. Diese Art zu denken wird in Tom Stoppards Schauspiel Rosenkranz und Güldenstern glänzend porträtiert. Die beiden Hauptdarsteller sind weise Idioten, ähnlich wie der Narr, der bei Shakespeare so oft auftritt, um zu amüsieren und zu informieren. Sie necken sich gegenseitig mit ständigen Wortspielen, die ebenso klug wie anstrengend sind, weil selten einer die Oberhand gewinnt. Rosenkranz und Güldenstern sind eigentlich Charaktere aus Shakespeares Hamlet. Es ist passend, daß aus einem seiner Schauspiele eine solch merkurische Kost gemacht wird, denn seine eigenen Stücke sind ebenfalls voll von merkurischem Geist. Obwohl der Text aufgeschrieben ist, klingen Shakespeares Wortgefechte in ihrem Ablauf ebenso spontan wie brillant. Hier ist ein kurzes Beispiel aus Ende gut, alles flut:
H ELENA : Monsieur Parolles, Ihr seid unter einem liebreichen Stern geboren.
P AROLLES : Unterm Mars!
H ELENA : Das hab ich immer gedacht: unterm Mars.
P AROLLES : Warum unterm Mars?
H ELENA : Der Krieg hat Euch immer so heruntergebracht, daß Ihr notwendig unterm Mars müßt geboren sein.
P AROLLES : Als er am Himmel dominierte.
H ELENA : Sagt lieber, als er am Himmel retrogradierte.
P AROLLES : Warum glaubt Ihr das?
H ELENA : Ihr geht immer sehr rückwärts, wenn Ihr fechtet!
Und so weiter. Dies ist das Beispiel eines geistreichen Mercurius-Tricksters. Menschen, die so etwas ohne Manuskript vortragen können, sind konstitutionell oft Mercurius. Dazu muß man geistig sehr schnell und beweglich sein, denn die Erwiderung muß gleichzeitig auf zwei verschiedene logische Gedankengänge passen. Diese Art von Neckerei klingt verrückt, aber wie bei Hamlet selbst hat der Wahnsinn auch bei Mercurius Methode. Im Grunde ist er sogar schnell genug, um sich selbst auf den Arm zu nehmen. Hamlet: »… mein Oheim-Vater und meine Tante-Mutter haben sich betrogen … Ich bin nur toll bei Nord oder Nord-West; wenn der Wind von Süden bläst, kann ich einen Falken sehr wohl von einer Hand-Säge unterscheiden.« Es ist sehr wahrscheinlich, daß der große Barde selbst Mercurius war. Jahrelang habe ich mich gefragt, welcher Konstitutionstyp Shakespeare wohl gewesen sein könnte. Dann entdeckte ich Mercurius, und alles paßte zusammen. Shakespeare war ein großartiger »Worteschmied«, nicht nur im Hinblick auf die Anschaulichkeit seiner Charaktere, sondern auch gemessen an seinen lebhaften Wortspielen und an der Tiefe seiner Erkenntnisse. Er kannte sich in der düsteren Würde des Palastes genauso aus wie im obszönen Humor der Wirtshäuser. Seine besondere Vorliebe galt dem Paradox und seiner Schwester, der Illusion. So steckte er Könige in die Kleider von Bettlern, vertauschte Zwillinge bei der Geburt (Zwillinge faszinieren die Doppelnatur des Mercurius), entlarvte die Frömmsten als Gauner, während die Geringsten sich als Engel herausstellten. Seine Kenntnis des menschlichen Wesens war beängstigend, und doch bewahrte er sich dabei ein leichtes Herz und blieb distanziert (»die ganze Welt ist Bühne, und alle Fraun und Männer bloße Spieler«). Seine Liebe zur Symbolik und zu esoterischen Bezügen läßt einen Mann erkennen, der sowohl in der rationalen Logik als auch in der irrationalen Weisheit zu Hause war, und seine Liebe zum Narren erinnert an Mercurius, der selbst ein Paradox ist, denn sein Geist ist so leer, daß er Weisheiten aussprechen kann.
Wie Shakespeare empfinden viele Mercurius-Menschen die Faszination der Esoterik und vor allem der Weissagung. Mehrere meiner Mercurius-Patienten befragten ständig Wahrsager, oder sie benutzten selbst Tarotkarten oder
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