Psychologische Homöopathie
und die ihrem Zustand der »Apathie« ein unheimliches Gefühl hinzufügte.
Kummer kann viele Formen annehmen. Acidum phosphoricum wird in Kents Repertorium unter der Rubrik »Heimweh« aufgeführt. Ein junger Mensch, der konstitutionell Acidum phosphoricum ist, aber noch nie ein ernsthaftes emotionales Trauma erlitten hat, hat vielleicht keine intensiven Gefühle, ist aber emotional ansprechbar. Wenn die junge Frau ihr Elternhaus verläßt, vor allem wenn sie weiter wegzieht, sehnt sie sich zunächst nach ihren Angehörigen und gerät dann allmählich in den Zustand der emotionalen Starre, der für die Pathologie von Acidum phosphoricum so charakteristisch ist. Das ist im Grunde derselbe Prozeß, der sich auch nach der Trennung von einem Partner, nach dem Tod eines geliebten Angehörigen oder jeder Art von Liebesverlust abspielt.
Ich vermute, daß aus dem Kummer nur dann dieser dauerhafte Zustand von emotionaler Starre entsteht, wenn der betroffene Mensch konstitutionell Acidum phosphoricum oder vielleicht Phosphor ist. (Die weitaus meisten langfristigen Kummerreaktionen brauchen Natrium muriaticum.) So entsteht der Eindruck, daß es ein »vortraumatisches« Stadium von Acidum phosphoricum gibt, das nach meiner Erfahrung mit diesen Patienten sehr stark an Phosphor erinnert, aber gedämpfter und sanfter ist. Nach der Behandlung mit der Arznei änderten meine Acidum-phosphoricum-Patienten nicht ihren Konstitutionstyp, aber ihre Emotionen kamen allmählich zurück. Dann wirkten sie wie Phosphor – sensibel, freundlich, beeindruckbar, aber im allgemeinen stiller und mehr introvertiert. (Ich gab diesen Patienten kein Phosphor, weil keine eindeutig pathologischen Symptome mehr zu behandeln waren, und deshalb kann es sein, daß einige doch konstitutionell zu Phosphor wechselten.)
Eine Patientin, eine junge Frau von ungefähr 25 Jahren, klagte über Apathie, emotionale Starre und Konzentrationsschwierigkeiten. Sie berichtete, sie habe scheinbar »überhaupt keine Persönlichkeit«, Als ich sie fragte, wie lange sie das schon so empfinde, antwortete sie: »Mein ganzes Leben lang.« Sie berichtete mir dann, ihre Mutter sei gestorben, als sie drei Monate alt war, und man habe ihr erzählt, sie sei danach sehr passiv geworden, während sie vorher ein normales, aktives Baby gewesen sei. Es sieht also so aus, als könneder pathologische Zustand von Acidum phosphoricum schon kurz nach der Geburt auftreten und ohne Behandlung unbegrenzt andauern. Wie meine anderen Acidum-phosphoricum-Patienten wurde auch diese Frau allmählich emotional wieder lebendiger, nachdem sie die Arznei in einer 10M-Potenz eingenommen hatte, und ihre geistige Verwirrung verschwand.
Geistige Verwirrung
Kent bemerkt in seiner Arzneimittellehre, die geistige Pathologie von Phosphorsäure oder Acidum phosphoricum gehe der körperlichen gewöhnlich voraus (“In jedem Falle finden wir, daß die geistigen Symptome sich zuerst entwickeln«). Dabei unterscheidet er jedoch nicht zwischen emotionalen und intellektuellen Beeinträchtigungen. Nach meiner Erfahrung tritt die emotionale Pathologie von Acidum phosphoricum zuerst auf, gefolgt von der intellektuellen und schließlich von körperlichen Problemen (keiner meiner Acidum-phosphoricum-Patienten hatte nennenswerte körperliche Probleme). Nach einer Phase der emotionalen Starre beginnt der Patient vielleicht, Dinge zu vergessen (Kent: »Vergeßlichkeit«). Allmählich verschlechtert sich das Gedächtnis, und die Denkvorgänge beginnen einzufrieren, so wie vorher schon die Emotionen. Der Patient wird das so beschreiben, daß sein Verstand mitten in einem Gedankengang leer wird. Bei der Konsultation hört er vielleicht aus demselben Grund mitten in einem Satz auf zu sprechen. Die Gedanken sind einfach weg. In dem Maße wie sich immer mehr leere Stellen im Gehirn ausbreiten, fällt es dem Patienten immer schwerer, folgerichtig zu denken. Wenn er etwas gefragt wird, braucht er lange Zeit um zu antworten (Kent: »antwortet langsam«, »Antworten – denkt lange nach«). Das liegt daran, daß er lange braucht, um die Frage zu verstehen und sie dann zu beantworten. Es handelt sich dabei nicht um einen Intelligenzmangel als solchen, sondern eher um ein zufälliges »Einfrieren« von Denkvorgängen. Am Ende wird das Denken für den Patienten so anstrengend, daß er auf die meisten Fragen nur noch mit »ich weiß nicht« antwortet.
Natürlich hat diese Art von geistiger Pathologie für den Betroffenen erhebliche
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