Psychologische Homöopathie

entdeckte ich bald, daß sie einen Sauberkeitszwang hatte und sich auf irrationale Weise vor dem Tod fürchtete. Das bestätigte meine Vermutung, daß sie konstitutionell Arsenicum war.
    Selbstsucht ist ein Charakterzug, den man bei jedem Konstitutionstyp finden kann, sogar bei dem engelhaften Phosphor. Je nach Konstitution gibt es jedoch unterschiedliche Arten, wie sich diese Selbstsucht äußert. Sulfur neigt zur Faulheit und wird die Familie vernachlässigen, um seiner Lieblingsbeschäftigung zu frönen, Ignatia ist oft verwöhnt und reagiert kindisch, wenn sie sich vernachlässigt fühlt. Die Selbstsucht von Arsenicum ist umfassender in dem Sinne, daß er generell dazu neigt, sich selbst wichtiger als andere zu nehmen. Das gilt besonders für Arsenicum-Männer. Die Frauen sind tendenziell weniger selbstsüchtig, neigen aber auch mehr als andere Konstitutionstypen dazu, sich und ihre Familie für wichtiger als den Rest der Welt zu halten. Dieser Mangel an Großzügigkeit hat mit der körperlichen Unsicherheit von Arsenicum zu tun. Es ist so, als habe Arsenicum das Gefühl, er könne es sich nicht leisten, großzügig zu sein, sei es nun materiell oder emotional; immerhin könnte der Tag kommen, an dem er alles braucht, was er besitzt.
    Am äußersten Ende des Arsenicum-Spektrums findet man Menschen, die kalt und grausam sind, die scheinbar überhaupt keine Gefühle für andere haben und ständig sauer und verärgert sind. Der Polizist Javert in Victor Hugos Les Misérables ist ein hervorragendes Beispiel für diesen Typ. Sein Leben wird zu einer zwanghaften Vendetta, und er weiht es der Verfolgung eines Krirninellen, der seine Bewährung zur Flucht benutzt hat. In typischer Arsenicum-Manier rechtfertigt Javert seine Bosheit mit einem Anschein von moralischer Überlegenheit. Er ist ebenso fromm wie grausam, obwohl seine Frömmigkeit eigentlich mehr Ordnungsliebe ist als Liebe zu Gott. Angesichts der immer offensichtlicher werdenden natürlichen Großmut seines Opfers begeht er schließlich lieber Selbstmord, als sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, daß seine rigide, buchstabengetreue Moral nichts weiter ist als ein Instrument oder Gefäß für seinen Haß.
    So wie jeder Konstitutionstyp selbstsüchtig sein kann, kann genausogut auch jeder Typ selbstlos sein. Nicht alle Arsenicum-Menschen sind besonders selbstbezogen. Einige sind großzügig und menschenfreundlich und genießenes, anderen zu helfen. Diesen großzügigeren Arsenicum-Typ findet man oft in der Rolle einer gütigen Autoritätsfigur. Die Führer von Pfadfindergruppen und Lehrer sind Rollenbilder, die es Arsenicum erlauben, anderen zu helfen und dabei gleichzeitig die Disziplin und Ordnung zu vermitteln, die ihnen so lieb und teuer ist.
    Reizbarkeit ist ein anderer Charakterzug, den man bei jedem Konstitutionstyp finden kann, aber er kommt bei manchen Menschen sicher häufiger vor als bei anderen, und Arsenicum gehört zu den leichter reizbaren Typen. (In Kents Repertorium wird Arsenicum unter fünf verschiedenen Reizbarkeitsrubriken in Fett- oder Kursivdruck aufgeführt.) Arsenicum reagiert vor allem auf Unsauberkeit, Ineffizienz und Verschwendung sehr leicht gereizt. All dies gehört zur materiellen Ebene der Existenz, die für Arsenicum gewöhnlich im Mittelpunkt steht. Der kultiviertere Arsenicum-Typ lernt, seine Gereiztheit und seinen Ärger meist zu verbergen, aber das hat natürlich seinen Preis. Vor allem viele Arsenicum-Männer tragen einen Vulkan von schwelendem Ärger in sich, der jederzeit ausbrechen kann, wenn sie zu sehr gereizt werden, um sich noch zu beherrschen. Dann ergießt sich möglicherweise ein Strom von Bitterkeit, die sich über Jahre angesammelt hat, entweder in physischer oder in verbaler Aggression (Kent: »Böswilligkeit«, »plötzlicher Impuls zu töten«). In der Zwischenzeit führt das Bemühen, Ärger und Gereiztheit zu unterdrücken, zu erheblicher Anspannung, ein Problem, das viele Arsenicum-Menschen haben.
Beziehungen
    Arsenicum ist normalerweise ein loyaler und verläßlicher Partner. Diese Menschen können durchaus herzlich sein, wenn auch nicht übermäßig. Da sie zur Einsamkeit neigen, ist der Partner/die Partnerin oft die einzige Quelle für Intimität, und das Familienleben wird zum hochgeschätzten Mittelpunkt der gesamten Existenz, der sichere, tröstliche Hafen in einer Welt, die zumindest teilweise als feindlich erlebt wird. Die Beziehung mag zeitweilig durch die Anspruchshaltung und Kritiksucht von