Psychologische Homöopathie
halluzinatorische Tendenzen destabilisieren oft den Verstand, und das führt dazu, daß einige Syphilinum-Menschen Angst um ihre geistige Gesundheit haben (Kent: »fürchtet, den Verstand zu verlieren«). Daraus kann sich auch eine allgemeine Furchtsamkeit entwickeln, die sich in Form grundloser Ängste oder als Agoraphobie äußert. Eine Syphilinum-Patientin pflegte in Panik zu geraten, wenn sie sich zu lange in der Stadt aufhielt. Als Kind hatte sie geträumt, unsichtbar zu sein, und wenn sie in Hut und Mantel ausging und so ihre Identität verbarg, fühlte sie sich sicherer. Viele Syphilinum-Menschen verhalten sich in Gesellschaft bescheiden und ziemlich passiv, aber sie haben durchaus eine wilde Seite, die unter dem Einfluß von Alkohol und manchmal auch beim Sex herauskommt.
Ich bin sicher, daß Syphilinum als Arznei einige Zustände von Demenz und Geisteskrankheit abdeckt (Kent: »Idiotie«, »lachen und weinen ohne Grund«), aber ich habe sie noch nicht erlebt. Als Homöopathen bekommen wir selten die ausgeprägteren Beispiele geistiger Labilität zu Gesicht, die unsere Vorgänger im vergangenen Jahrhundert wahrscheinlich häufiger in ihrer Praxis gesehen haben.
Ein komplizierter männlicher Syphilinum-Fall
Die meisten Syphilinum-Patienten, die ich kennengelemt habe, waren Frauen, und bei ihnen spielte Wut entweder keine Rolle, oder sie kam nur unter dem Einfluß von Alkohol auf. Ich habe jedoch einen männlichen Syphilinum-Patienten behandelt, der sehr viel Wut ausdrückte und gleichzeitig andere sehr klassische Syphilinum-Züge wie selbstzerstörerisches Verhalten und Angst vor Schmutz aufwies. Sein Fall unterschied sich stark von meinen weiblichen Syphilinum-Patienten und erinnerte mehr an das populäre Bild des aggressiven, selbstzerstörerischen Typs, das viele Homöopathen von Syphilinum haben. Deshalb vermute ich, daß das Geschlecht der Patienten großen Einfluß darauf hat, wie das syphilitische Miasma ausgeprägt wird. Wie bei Stramonium neigen die männlichen Vertreter der Syphilinum-Konstitution offenbar stärker dazu, die aktiven und aggressiven Eigenschaften des Typs auszudrücken, während bei den Frauen die mehr passiven Eigenschaften des Typs stärker zur Geltung kommen. Mein männlicher Syphilinum-Patient, den ich Dave nennen will, war ein begabter Musiker, der fähig war, in einen fast mystischen Strom musikalischer Inspiration einzutauchen, so daß er sehr spontan Lieder komponieren konnte. (Das erinnert mich an den begabten Mercurius-Dichter, der ähnlich inspiriert war. Diese beiden Typen haben viele Gemeinsamkeiten.)
Als ich Dave zum ersten Mal sah, dachte ich sofort an Syphilinum, weil seine beiden Augen zwei völlig unterschiedliche Farben hatten. Er führte das darauf zurück, daß seine Mutter im Hinterland von Australien nuklearer Strahlung ausgesetzt gewesen war. Ob das nun stimmte oder nur ein weiteres Beispiel für Syphilinums Angst vor Verseuchung darstellte, war mir nicht klar. Bei seiner ersten Konsultation war Dave in einem ausgesprochen überaktiven Zustand. Seine Gedanken überschlugen sich, und er sprach schnell und etwas zerstreut. Mit anderen Worten, er war manisch. Er sagte, er habe eine Stoffwechselstörung, die zu diesen dramatischen Stimmungsschwankungen führe. Seine Launen wirkten wie ein Wechsel zwischen selbstmörderischer Verzweiflung, Wut und inspirierter Begeisterung. Dazwischen fühlte er sich eine Zeitlang normal, aber wenn er etwas aß, kamen die Anfälle wieder. Er sagte, er würde oft fasten, um sie zu vermeiden. Während eines Anfalls hatte er das Gefühl, sein Bewußtsein würde auseinanderfallen, und seine Gliedmaßen würden zittern und seien nicht mehr mit dem Körper verbunden (ähnlich wie bei Baptisia und Phosphor im Fieber). Während seiner Anfälle ließ er seinen Ärger an unbelebten Dingen aus. Beispielsweise schlug er beieiner Gelegenheit Blecheimer platt und schnitt sich dabei in die Hand. Seine Wut wurde besonders durch jeden sexuellen Kontakt verschlimmert, und zwar so sehr, daß er nicht mit seiner Frau schlafen konnte. Wenn er es doch tat, wollte er einen harten, gewalttätigen Sex, über den er anschließend beschämt war. Er litt zweifellos große Qualen, und obwohl man ihn nicht als geisteskrank bezeichnen konnte, war er doch nicht weit davon entfernt.
Dave war ein hyperaktives Kind gewesen. Seltsamerweise hatte er bis zum Alter von sechs Jahren nicht gesprochen. Diese Art einer extrem ungewöhnlichen Entwicklung findet man oft in
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