Puerta Oscura - 01 - Totenreise
Medaillon mit einem eingravierten Bildnis, das folgende Inschrift trug:
CAPITAINE
ARMAND
RUNNÉ
1857
1899
Der Soldat stellte sich neben den Obelisken, das Gesicht in gleicher Höhe wie das Bildnis auf dem Medaillon. »Vergleiche«, bat er Pascal. »Meine verwitwete Frau hat dem Bildhauer viel Geld bezahlt, also solltest du trotz des schwachen Lichts die Ähnlichkeit erkennen.«
Pascal folgte widerstrebend der Aufforderung, und trotz aller Ablehnung musste er feststellen, dass es eine unleugbare Ähnlichkeit gab.
»Sind … sind Sie also wirklich tot?« Pascal war kurz vorm Durchdrehen. Wenn er nicht verrückt werden wollte, brauchte er ein paar logische Erklärungen. So oder so, irgendwas, mit dem er etwas anfangen konnte. Also fragte er:
»Aber warum kann ich Sie dann sehen, warum sprechen Sie mit mir? Bin ich etwa auch tot?«
Der Soldat beeilte sich, diese Möglichkeit auszuschließen: »Nein, nein. Wie ich schon sagte: Du lebst, in deinen Adern fließt Blut und deine Augen leuchten!«
Erst jetzt stellte Pascal fest, dass die Augen des Capitaines ausdruckslos waren, wie erloschen. Sein Gegenüber lächelte jetzt.
»Wir sind in Paris, Pascal. Wenn auch in einer anderen Dimension, wofür du noch mehr Beispielen begegnen wirst. Freut mich, dich kennenzulernen.«
Der Capitaine schüttelte ihm energisch die Hand.
»Aber …«, stammelte Pascal, »wenn Sie über hundert Jahre tot sind … Ich weiß nicht, Ihr Körper, er wirkt wie lebend. Außerdem reden Sie wie ich …«
Der andere wischte die Zweifel mit einer Geste weg und hob zu einer Erklärung an – doch da näherten sich ihnen mehrere Gestalten. Pascal, der sich ein wenig beruhigt hatte, zuckte erneut zusammen und wollte umso schneller den Rückzug von hier antreten. Doch der Capitaine hielt ihn am Arm fest.
»Warte!«, bat er. »Erschrick nicht, denk daran, du bist auf einem Friedhof. Hier gibt es viele wie mich. Und niemand wird dir gefährlich.«
Frauen und Männer, Kinder und Greise, allen gemeinsam jener erloschene Blick …
Ein junger Mann von vielleicht fünfundzwanzig Jahren löste sich aus der Gruppe.
»Guten Tag, Pascal«, begrüßte er ihn. »Ich bin einer der langjährigsten Bewohner dieser … Welt. Dieses Friedhofs, will ich sagen. Ich heiße Charles Lafayette.«
Er reichte ihm seine kalte Hand, die Pascal reflexartig schüttelte. Irgendwie hatte er das Gefühl, neben sich zu stehen, so unwirklich, wie das alles war. Trotzdem fühlte er sich verpflichtet, etwas zu sagen: »Also … also du siehst nicht alt aus«, stellte er mit brüchiger Stimme fest und löste damit ein allgemeines Schmunzeln aus.
»Wie zu erkennen ist«, erklärte der junge Mann sichtbar amüsiert, »nagt hier an unseren Körpern nicht der Zahn der Zeit, also sind wir in bester Verfassung. Vor allem, wenn jemand jung stirbt, wie in meinem Fall. Herzlich willkommen in der Welt der Toten, Pascal.«
Die Welt der Toten … Als müsste es erst diesen unmissverständlichen Satz geben, wurde Pascal deutlich darauf hingewiesen, wo er sich befand – und vor allem: dass die Prophezeiung der Wahrsagerin sich bestätigte: die Spielkarte mit dem Sensenmann, eine Reise zum Tod. Das Einzige an der Voraussage, das sich nicht erfüllt hatte, war, dass Michelle nicht bei ihm war. Pascal vermisste sie auf diesem unglaublichen Trip, ebenso seine Familie und seinen Freund Dominique. Es war einfach zu viel, um allein damit fertigzuwerden. Auch wenn es nur ein paar wenige Stunden waren, dass er, eingeschlossen in der Truhe auf Jules’ Dachboden, diese Reise begonnen hatte, kam es ihm so vor, als wäre er schon seit Monaten unterwegs.
Er fragte sich, welche Rolle Michelle bei diesem absurden Abenteuer spielen sollte, falls die Wahrsagerin auch damit recht gehabt hatte und sie ebenfalls darin verwickelt war.
Noch konnte er es sich nicht vorstellen.
8
DER JUNGE LAFAYETTE erzählte seine Geschichte. »Vor neunhundert Jahren heiratete ein junger venezianischer Edelmann, der Baron Fabrizio della Bellanza, ein Fräulein von edler Abstammung, Adriana Balici, deren Familie ebenfalls in der Lagunenstadt lebte. Es war für beide die große Liebe und der Traum vom Glück, der sich zu erfüllen schien. Doch schon bald wurde der Traum zerstört: Adriana erkrankte schwer, ohne Aussicht auf Heilung, und auf dem Sterbebett schwor sie ihrem Fabrizio, ihn in der anderen Welt niemals zu vergessen, und er glaubte ihr.
Fabrizio, fast wahnsinnig vor Schmerz, verbrachte Tage damit, wie ein
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