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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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Siedler William Byrd 1728 vermessen und festgelegt hat. Die Flüsse wiederum, die ihre jeweilige Nordgrenze bilden, fließen exakt parallel von den Hängen der Appalachen herab. Es gibt da also eine Spiegelung.
    Im Jahre 1818 näherte sich einer der wenigen Menschen, die damals eine zumindest halbwegs stimmige Erklärung der dafür in grauer Vorzeit verantwortlichen Vorgänge liefern konnten, an Bord eines langen, überdachten Flachboots, das er, den örtlichen Gepflogenheiten folgend, »Arche« nannte, der Stadt Louisville in Kentucky. Es war Sommer. Entlang des Alligatorenauges reiste er den Ohio hinab. Zehn ganze Jahre hatte er den Namen seiner Mutter geführt, Schmaltz, denn im britisch besetzten Sizilien gab man sich besser nicht allzu schnell als Franzose zu erkennen. Als er jedoch auf seiner bo
tanischen Expedition, finanziert mit einhundert einem Verleger in Pittsburgh als Vorschuss auf eine »Neue und Akkuratere Karte der Nebenflüsse des Ohio« abgerungenen Dollar (eine Karte, die er zwar tatsächlich zeichnete, die aber nie veröffentlicht wurde), Kentucky erreichte, hatte er wieder den Namen Constantine Rafinesque angenommen.
    »Wer ist Rafinesque, und was für eine Persönlichkeit hat er?«, fragte einst John Jacob Astor. Angesichts der Komplexität einer Antwort wurde es selbst Rafinesque schwindelig. »Vielseitige Begabungen«, schrieb er, »sind in Amerika nichts Ungewöhnliches, aber jene, die ich an den Tag gelegt habe . . ., würden die Grenze des Glaubwürdigen wohl überschreiten: Und doch ist es eine unwiderlegbare Tatsache, dass ich als Botaniker, Naturforscher, Geograph, Historiker, Dichter und Philosoph hervorgetreten bin, als Philologe, Ökonom, Philanthrop . . .«
    Die Flussarchen fuhren nur stromabwärts. Sobald sie ihr Ziel erreicht hatten, zerlegten ihre Besitzer sie und verkauften das Holz. Sie glichen schwimmenden Inseln und wurden oft zu Verbänden zusammengeschnürt (so war es auch auf Rafinesques Reise). In einem Dokument aus dem Jahr 1810 heißt es, dass sie die Form von »Parallelogrammen« hatten. Manche Archen waren über zwanzig Meter lang. Man wohnte in einer Kabine oder unter freiem Himmel an Deck, manchmal auch in einem Zelt, mit einer offenen Feuerstelle zum Kochen. Es gab Tiere. Für den nach Belieben jederzeit einzuschiebenden Landgang und die Rückkehr zur Arche nahm man sein eigenes kleines Boot, das, mit dem Dollbord vertäut, seitlich mitschwamm. Archen kamen bei langsamer Strömung langsam, bei schneller Strömung schnell voran. Bei sehr schneller Strömung zerschellten sie. Im Normalfall gab es nur drei Ruderer. Diese ausgesprochen amerikanische Art des Reisens genügte den Anforderungen im Binnenland länger als ein Jahrhundert, ist heutzutage aber in einem Ausmaß vergessen, dass man selbst
ihre gröbsten Umrisse nur noch schwer rekonstruieren kann. Kein Twain hat sich ihrer angenommen. Rafinesque schätzte die Archen, weil er während ihres Dahintreibens botanisieren konnte. In diesen Momenten spürte er den seine Adern hinabpulsenden vegetativen Herzschlag des Kontinents. Die grüne Welt raunte ihm zu. In seinen kurz vor seinem Tod verfassten knappen, gehetzten, verletzten Memoiren teilt er uns klar und deutlich mit, was sie zu ihm sagte: »Du bist ein Eroberer.«
    In gewisser Weise war die Neue Welt niemals neu. Ist Ihnen das noch nie aufgefallen? Ich meine nicht die indianischen Ureinwohner – das liegt ja auf der Hand. Nein, sogar aus Sicht der ersten Europäer war immer schon jemand da. Der erste Mensch, auf den der Konquistador Hernando de Soto in Florida traf, sprach Spanisch. War sogar Spanier! Und das Schiff der Pilgerväter, hatte es nicht eine Gruppe Indianer an Bord, die von einem London-Besuch zurück in ihre Heimat reisten?
    Auch Rafinesque konnte, als er zum ersten Mal die Berge überquerte und damit berühmt wurde, bereits auf eine stattliche amerikanische Karriere zurückblicken, auf eine Art Prolog. Von 1802 bis 1805 war er kreuz und quer durch Neuengland gereist, er hatte Feldforschung betrieben, mit wissenschaftlichen Honoratioren gespeist und sich von Veteranen der Revolution, die ganz begierig darauf waren, über Pflanzen zu reden, in holpernden Wagen herumkutschieren lassen. Fast überall empfing man ihn als Wunderknaben – er war neunzehn Jahre alt und aufgrund der ausgeprägt selbstbewussten Frühreife seiner Jugendschriften weltweit zu Ansehen gelangt. Der ein oder andere noch berühmtere Naturforscher beäugte kritisch

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