Pulphead
Wir
behaupten immer, dass zuerst die Dinosaurier ausstarben und dann erst die Säugetiere auftraten. Warum nicht wenigstens mal den Gedanken durchspielen, dass die Säugetiere eine aktive Rolle gehabt haben könnten?«
»Sie meinen, sie haben die Macht ergriffen?«
»Ähem . . .«, machte er. »Absicht zu unterstellen, ist im Rahmen der natürlichen Selektion schwierig.«
Wir schwiegen für einen Moment und nippten an unserem Tee.
»Und bedenken Sie«, fuhr Marc fort, »dass zum jetzigen Zeitpunkt ungefähr vierzig Delfine im offenen Meer leben, die aus Programmen der Marine entflohen sind. Wir haben keine Ahnung, wozu man sie ausgebildet hat. Sprengstoff zu transportieren? Taucher zu töten? Ich rechne damit, dass sie schon in den nächsten Jahren in einer Führungsrolle in Erscheinung treten werden. An Land die Schimpansen, im Meer die Delfine. Wir können davon ausgehen, dass sie derzeit an einem für beide Seiten verständlichen Zeichensystem arbeiten, höchstwahrscheinlich an der westafrikanischen Küste.«
Über diese Geschichte mit der Kooperation zwischen Tierarten, die ich immer für pure Science-Fiction gehalten habe, was ich bis zu einem gewissen Grad auch heute noch tue, wollte ich mehr wissen.
»Kennen Sie Gegenseitige Hilfe von Kropotkin?« Als ich ihn groß anschaute, ergänzte er: »Lesen Sie's. Das Buch ist seit wahrscheinlich hundert Jahren vergriffen, aber Sie sollten es trotzdem lesen. Kropotkin hat Hunderte von Situationen dokumentiert, bei denen nicht verwandte Arten sich gegenseitig geholfen haben. Kropotkins Befund lautete, dass zwei oder mehr Arten, die derselben Bedrohung ausgesetzt sind, eine gemeinsame Verteidigungsstrategie ergreifen. Die einzige offene Frage betrifft das Procedere.«
»Wie kann man sich die Welt der Zukunft vorstellen?«, stellte ich die Frage, die mich beschäftigte.
»Nicht wiederzuerkennen«, sagte er. »Menschen, die in Trupps unterwegs sind. Entvölkerung. Wir wissen nicht, wie weit dieser Wandel im Bewusstsein der Tiere auf der evolutionären Stufenleiter hinunter reichen wird. Wir wissen nicht, welche Arten er erfassen wird, und zwar aus dem einfachen Grund, dass wir nicht wissen, welche Tiere überhaupt über Bewusstsein verfügen. Werden die Nagetiere beteiligt sein? Die Reptilien? Die Insekten? An diesem Punkt sind wir bei Mutmaßungen auf Stammtischniveau.«
Ich fragte ihn, welches Tier ihm die meisten Sorgen bereite.
»Schwierig«, antwortete er. »Ich glaube, die Delfine. Allerdings nicht wegen ihrer Tödlichkeit – obwohl genau die ständig unterschätzt wird –, sondern weil ich glaube, dass sie von allen Tierarten am besten verstehen, welchen Schaden wir dem Planeten zugefügt haben. Sie begreifen, wie unermesslich er ist. Die anderen Tiere reagieren auf plötzliche Hormonausschüttungen oder kleine Auslöser von Instinktverhalten. Delfine sind meines Erachtens jedoch in der Lage zu hassen, und ihr Hass auf uns ist bodenlos. Wenn wir vom furchterregendsten Landtier sprechen, sollten wir den Bären ganz oben auf die Liste setzen. Oder vielmehr die Kombination aus Schimpansen plus Bären, die eine Master-Blaster-Machtdynamik entwickeln kann. Meine Güte, können Bären einem Schmerzen zufügen, wenn ihnen danach ist. Man benötigt im Normalfall zehn Schüsse, um einen zur Strecke zu bringen. Wenn es erst mal so weit ist, werden wir natürlich mit Panzerfäusten und Ähnlichem auf sie schießen. Jagdvorschriften wird es keine mehr geben. Es wird nicht viel anders sein, als eine Menschenarmee zu bekämpfen. Vor den Bären habe ich Angst. Sie wissen definitiv, wie sie in Häuser und Autos kommen. Wenn erst mal die gesamte Gattung Amok läuft . . . Scheiße, Mann!«, sagte er mit einem plötzlichen, benommenen Lächeln. »Wenn ich weiter meinen Beruf ausüben will, sollte ich mich nicht mit diesem Zeug beschäftigen.«
Er rückte seine Brille zurecht und sah sich um.
»Denken Sie doch noch mal anders darüber nach«, sagte er dann. »Im frühen 18. Jahrhundert lebten in Nordamerika viele versklavte Schwarze und Indianer, gegen die man Krieg führte. Dazu die ganzen unglücklichen, armen weißen Bediensteten. Zusammengerechnet stellten diese Gruppen die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung. Wäre ihnen ihre missliche Lage tatsächlich bewusst geworden, will sagen, die Gemeinsamkeit ihrer misslichen Lage, und hätten sie das Programm der herrschenden kolonialen Klasse als die Ursache identifiziert, dann wäre unser Kontinent
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