Pulphead
seinen »manischen« Entdeckerdrang. Man erzählte sich, dass Rafinesque das erste Unkraut, das er auf amerikanischem Boden gesichtet hatte – und das durchaus weit verbreitet war –, neu benennen und klassifizieren wollte. (Was stimmt.)
Benjamin Rush, einer der Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung und der erste große Arzt Amerikas, bot Rafi
nesque an, ihn in seiner Praxis in Ausbildung zu nehmen – Medizin und Botanik lagen damals noch näher beisammen. Rafinesque lehnte ab. Sein Schicksal war ihm bereits offenbart worden, und es wartete nicht in der Stadt auf ihn. Man muss sich vor Augen halten, in welcher Zeit wir uns befinden: Es waren die Jahre der Lewis-und-Clark-Expedition; Jeffersons Corps of Discovery erreichte die Westküste. Erst spätere Expeditionen würden den Süden erkunden, Louisiana und Arkansas, und sich in Richtung »der Appalachen wenden, dem unbekanntesten all unserer Gebirge, das zu erforschen ich lechze«, wie Rafinesque schrieb. Man stellte ihn Jefferson vor, und zwischen den beiden Männern entspann sich ein Briefwechsel. Die Erde, die Rafinesque für ein »gegliedertes Tier« hielt, das »im Weltall herumrollt«, hatte es so eingerichtet, dass er just in dem Moment vor Ort und in der richtigen Verfassung war, als ein schier endloser, taxonomisch gesehen unberührter Kontinent sich der Wissenschaft darbot. Mit Freuden, » messr. le president «, wolle er, der er doch äußerst und – er könne es leider nicht anders sagen – auf einzigartige Weise qualifiziert sei für diese Aufgabe, als offizieller Naturforscher des Corps dienen. Die Vierte Welt, wie Rafinesque die Neue Welt nannte, sei zwar vor langer Zeit entdeckt worden; aber jetzt würde man sie bekannt machen.
Entweder hat Jefferson diesen Brief nie bekommen – oder er hat ihn ignoriert. Für ihn war die Lewis-und-Clark-Expedition eine halbmilitärische Angelegenheit, und er wusste, dass »neun junge Männer aus Kentucky« einen exzentrischen französischen Universalgelehrten nicht würden ertragen können. Stattdessen schickte er Lewis nach Philadelphia und bezahlte für dessen Privatunterricht bei örtlichen Gelehrten. Rafinesque, der damals in der Stadt Vorlesungen hielt und sich erlaubt hatte, fest davon auszugehen, dass man ihn bald zur Teilnahme an der Mission einladen würde, muss gekocht haben vor Wut. Er sah zu, wie der Körper eines anderen Mannes
in seine Zukunft schritt, seinen Augenblick auskostete. Was wir heute alles wüssten, hätten sie Rafinesque zum Pazifik geschickt! Allein sein glühendes Interesse an Indianersprachen – quasi beispiellos in seiner Zeit. Sogar unter den gegebenen Umständen schaffte er es noch, das Kriegsministerium im Alleingang dazu zu bewegen, an alle Indianerbeauftragten des Landes Vokabelfragebögen auszugeben, auf die bis heute mit großer Anerkennung verwiesen wird – von Linguisten, die nicht wissen, dass Rafinesque sie entwickelt hat.
Die Arbeit hätte ihn – was nicht weniger wichtig gewesen wäre – als Wissenschaftler geformt und diszipliniert. Endlich hätte er eine Aufgabe gehabt, die so groß gewesen wäre wie sein Selbstbewusstsein. Jeder Gelehrte in den großen Städten Europas und der Ostküste hätte auf seine Erkenntnisse über Flora, Fauna und Indianerstämme gewartet. Und über die Berge. Er wäre gezwungen gewesen, von Anfang an den kritischen Blick Dritter auf seine Befunde mitzudenken, sein radikal fortschrittliches System zur Klassifikation des Tier- und Pflanzenreichs, das er zu jener Zeit anzuwenden begann, entsprechend anzupassen und zu verfeinern – er war bereits dabei, sich Schritt für Schritt von dem »unfeinen« und willkürlichen Sexualsystem seines ehemaligen Lehrers und Vorbilds Linné zu lösen. Ihm wäre nichts anderes übrig geblieben, als äußerst methodisch vorzugehen, sich an das zu halten, was er vor Augen gehabt hätte – schon die schiere Masse der Proben hätte ihm dieses Verfahren diktiert.
Über Jeffersons ausbleibende Antwort ärgerte er sich maßlos, und 1805 segelte er unter Murren, man sei noch nicht für ihn bereit, nach Sizilien. So war es mit Rafinesque: Obwohl im Feld unantastbar, fachkundig wie kein Zweiter, konnte er nicht stillsitzen, war in seiner Ruhelosigkeit immer zu schnell beleidigt. Seine Karriere hatte hierzulande ja kaum begonnen. In den Wochen vor seiner Abreise bedauerten die Zeitungen unverblümt seine Entscheidung. Er reiste trotzdem ab, was ihm
den Ruf einer gewissen Launenhaftigkeit
Weitere Kostenlose Bücher