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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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1994 definitiv als Fälschung entlarvte.
    Im präkolumbischen Amerika gab es nur ein wirkliches Schriftsystem: die Maya-Schrift. Es fügt sich, dass Rafinesque heute als eine der »treibenden Kräfte« bei der letztendlichen Entschlüsselung der Maya-Schriftzeichen angesehen wird, was ihn zum einzigen Denker aller Zeiten macht, der sowohl die Geheimnisse einer alten Sprache erfolgreich aufgedeckt als auch mit fast gar krimineller Energie versucht hat, die Existenz einer anderen zu fingieren. Aber der schönen und verwirrend modernen Poesie, welche die von allen wissenschaftlichen Bürden befreiten Verse des Walam Olum auszeichnet, gebührt Ehre. Eigentlich ist das Walam Olum ein großartiges amerikanisches Gedicht des 20. Jahrhunderts, das zwischen 1820 und den frühen dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts verfasst wurde und mit großer Ernsthaftigkeit vorgibt, vom Anfang aller Zeiten zu stammen. Es ist keine Übersetzung, sondern eine Prophezeiung, die da einer, für den das Englische die Viert- oder Fünftsprache war, im Zustand teilweiser geistiger Umnachtung von sich gibt:
     
    »Es friert war da, es schneit war da, es ist kalt war da.
    Um milde Kälte und viel Wild zu haben, ziehen sie in die nördliche Ebene, um Vieh zu jagen, ziehen sie dorthin.
    Um stark zu sein und um reich zu sein, teilen sich die Ankommenden in Bauern und Jäger, in Wikhi-chik und Elowi-chik .
    Die am meisten starken, die am meisten guten, die am meisten heiligen die Jäger sind.
    Und die Jäger verbreiten sich und werden Nordlinge, Ostlinge, Südlinge, Westlinge.«
     
    Rafinesques Tugenden artikulieren sich häufig an derart falscher Stelle. Seine zweibändige Medical Flora ist aus medizinischer Sicht aller Wahrscheinlichkeit nach geradezu gefährlich. (In einer nüchternen Rezension von damals steht: »Wie düster müssen die Zeiten sein, dass aus einem gelehrten Kopf ein solcher Apothekenmörser wird.«) Aber gleichzeitig ist dieses Werk auch voll von gründlich durchgearbeiteter, strenger Volkskunde. Auf seinen geschätzt achttausend Meilen langen »botanischen Reisen« befragte Rafinesque Indianer, Sklaven und arme Weiße über ihre Anwendung von Kräuter- und Wurzelheilmitteln – bei Schlangenbissen, bei Krebs. Und ich habe auch noch gar nicht erwähnt, dass seine Rassentheorien so fortschrittlich waren, dass sie fast futuristisch anmuten. Noch nie ist klar und deutlich herausgestellt worden, dass Rafinesque der erste Mensch aller Zeiten war, der in einem Druckerzeugnis bestritten hat, dass »Rasse« als biologisches Konzept eine Gültigkeit habe. »Als wie nutzlos haben sich diese Kategorisierungen und Dispute über Hautfarben und Neger erwiesen«, schreibt er. »Es ist ja zweifelhaft, was überhaupt ein Neger ist! Denn es werden schließlich Menschen aller Farben und Schattierungen für Neger gehalten, mit wolligem oder langem oder seidigem Haar, mit hässlichen und schönen Gesichtszügen etc.« Er bekannte, nie »Wissen verschmäht zu haben, nur weil es mir aus ungehobeltem Mund vermittelt wurde«. Im Ergebnis bewahrte er vieles, das wertvoll ist.
    Man darf ihm nur nicht zuhören, wenn er über seine Arbeit spricht. Er hat sie selbst nicht verstanden. Er hatte gar nicht die Zeit dazu. Sein »großes Poem«, The World: Or, Instability , ist als Gedicht rührend unbeholfen, aber die endlosen, das eigene Vorgehen erklärenden Schlussbemerkungen im Anhang, die dem Wüsten Land um hundert Jahre vorausgingen, gehören zu seinen besten Schriften. Er fantasiert darin von »wie ein Boot oder eine Spindel, ein Fisch oder ein Vogel geformten« Heißluftballons mit Segeln und Dampfkraft. Hier fordert
er das Ende des Privateigentums an Grund und Boden und die Rückkehr zur Allmende. »Ich hasse den Anblick von Zäunen genauso, wie die Indianer es tun!«, schreibt er. Das seltenste seiner Bücher, Annals of Kentucky , besteht zum Großteil aus noch mehr Atalanten-Quatsch, aber die fünfseitige, qua Zeitsprung ins Präsens verfrachtete szenische Nacherzählung der geologischen Entstehung von Kentucky ist ein Prosa-Diamant: »Der salzige Ozean bedeckt das ganze Land . . . Durch die Tätigkeit unterseeischer Vulkane bilden und vermischen sich die Kohle-, Lehm und Amygdalin-Schichten . . . Das Cumberland- oder Wasioto-Gebirge erhebt sich aus dem Meer.« Unter all den Seelen, die in seiner Brust wohnten, ist es Rafinesque, der Schriftsteller, den es noch kennenzulernen gilt. Wie Conrad oder Isak Dinesen machte er sich die leichte

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