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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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Evolution beschäftigen, sind seine am wenigsten furchtbaren, da man ihnen anmerkt, wie er für einen kurzen Moment das Verseschmieden sein lässt und zu denken beginnt: »Wie ein Baum mit vielen Zweigen bringen die / Meisten Gattungen die verschiedensten Sorten / Oder Arten hervor; Varietäten erst, wie sich / Entfaltende Knospen, die dann zu Arten werden und / Im Alter zu der ihnen eigenen Form finden.«
    Der ihnen eigenen Form  – man kann geradezu sehen, wie die Nadel hier auszuschlagen beginnt. Genauso bei den »konstanten Merkmalen«, in dem Satz, auf den Darwin verwies. Rafinesque stand kurz davor. Oft kann man ihm, wenn er sich dieser Frage nähert, dabei zusehen, wie er – mit einer plötzlichen Überfülle bedeutungsloser, wohlklingender Adjektive – den bruchstückhaften Umriss einer Antwort zeichnet. Zum Beispiel, wenn er über »die natürliche Evolution von spontanem Pflanzenleben« schreibt, »die sich in großer Weisheit durch die Zeitalter vollzieht«. Oder über »feste Gestalten und Gestalten, die beim Hervorbringen von Rassen oder Nachkommen veränderlich sind, bis sie über wichtige Merkmale, die sie in Dauerhaftigkeit, Vielfalt der Individuen oder Isolierung in unterschiedlichen Klimazonen vereinen, einen spezifischen Rang bekommen«. Unterschiedliche Klimazonen! Er war wirklich fast am Ziel – allerdings wird das Innere dieses Umrisses für immer vernebelt bleiben.
    Zu wissen, wie weitblickend er war, wie nah am äußersten Rand des intellektuellen Universums er sich bewegte und wie böse er sich trotzdem in die als gesichert geltenden Annahmen seiner Zeit verrannte, ist das Erschreckende, aber auch das Heroische an Rafinesque. Wir tun gut daran, eine Lehre
in Sachen Bescheidenheit daraus zu ziehen. Es ist nur allzu menschlich, verwirrt zu sein. Kein anderes Tier hat jemals einen irrigen Gedanken über die Natur gefasst. Vor nicht allzu langer Zeit noch dachte man, die Erde sei sechstausend Jahre alt. Wer weiß schon, was heute unsere sechstausendjährige Erde ist? Auch wir sehen bisweilen den Wald vor lauter Bäumen nicht. In fünfhundert Jahren wird es zwei oder drei Dinge geben, die wir geglaubt und über die wir uns mit absoluter Gewissheit sehr ausführlich verbreitet haben, die die Menschen der Zukunft zum Totlachen finden werden. Rafinesque hat das Vorhandensein dieser blinden Flecken mit seinen ausgezeichneten, schutzlosen Nerven gespürt, schaffte es aber dennoch nicht, ihnen auszuweichen.
    Es gibt einige von Einsamkeit gezeichnete Schicksale, aber das Schicksal von Rafinesque steht ganz oben, es ist das Schicksal des in der Zeit verlorenen Genies, des Vorboten falscher Morgendämmerungen. Sein schönes, menschliches Hirn passte nicht ins 19. Jahrhundert. Er war ein Mensch des 18. Jahrhunderts. Dass er die Heilsbotschaft des Neuen verbreitete und man sich an ihn als einen Denker erinnert, der seiner Zeit allzu weit voraus war, dass er aber zugleich immer auch etwas verstaubt Gehrock-haftes hatte, das sind die zentralen Momente seiner Anziehungskraft. In einem der seltenen Blicke, die wir auf seine Kindheit erhaschen, sehen wir ihn alleine in der Bibliothek das Spectacle de la Nature lesen, eines dieser anonymen, unter Pseudonym verfassten oder sonst wie klandestin veröffentlichten Pamphlete der Aufklärung, die in Paris Mitte des 18. Jahrhunderts auftauchten. Das ist ein aufschlussreiches Detail. Wir bewegen uns im Milieu von Diderots Encyclopédie , einem Milieu des totalen Wissens und der allumfassenden systèmes . Hier wird Rafinesques Bewusstsein geformt – und mit der Hartnäckigkeit ausgestattet, die nur durch frühes, intensives Selbststudium entsteht. Er war nie auf einer Universität, nicht einen einzigen Tag. Ausweichend
schreibt er: »Ich sollte in die Schweiz gehen, auf ein Collège . . . aber dieses Vorhaben erfüllte sich nicht.« Stattdessen lebte er abwechselnd bei seinen beiden adligen Großmüttern, die ihm einredeten, er sei der schlauste Junge auf Erden und solle lesen gehen. Mit vierzehn brachte er sich selbst Latein und Griechisch bei, nicht, weil ein Privatlehrer das von ihm verlangte, sondern weil er feststellte, dass er, um die Fußnoten zu verstehen, beide Sprachen brauchte. Seine Bücher hatte er zwar selten griffbereit, aber Latein und Griechisch beherrschte er absolut fehlerfrei. (In einer alten ornithologischen Zeitschrift findet man folgende Randbemerkung: Ein Feldforscher krittelt in der Annahme, es handele sich um falsches Griechisch, an

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