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Pulverturm

Pulverturm

Titel: Pulverturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Maria Soedher
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unterwegs, brauchte den Blick, die frische Seeluft. So wie es aussah, fuhren sie ihre Computer herunter, schlossen die Bürotüren hinter sich, gingen geradewegs zu ihren Autos oder über die Brücke und eilten sich, nach Hause zu kommen, wo immer das war. Aus welchem Grund hätten sie sich hier noch aufhalten sollen? Um einen Blick zu genießen, den sie den ganzen Tag vor Augen hatten und der sie nicht mehr berührte?
    Schielin, Funk und Lydia Naber beendeten die Befragung, ohne ein brauchbares Ergebnis bekommen zu haben. Lydia Naber fuhr schweigend mit Robert Funk zur Dienststelle zurück, während Schielin Ronsard auf die Weide verfrachtete, sich dort von einem beleidigten Esel anblöken ließ und dann duschen ging.
    Er entschied sich für eine altmodische Art und Weise der Kommunikation und legte einen handgeschriebenen Zettel mit allen erforderlichen Informationen auf den Küchentisch. Keine SMS und kein Anruf über Handy. Wozu auch. Dann fuhr er zur Dienststelle.
    *
    Über Ottmar Kinker wussten sie bisher, dass er alleinstehend war, bei einer Immobiliengesellschaft in Ravensburg arbeitete und eine Wohnung in Reutin bewohnte. Unter gleicher Adresse waren noch eine Meta und eine Helmtraud Kinker gemeldet. Zusammen mit Lydia begab sich Conrad Schielin auf den Weg, die traurige Nachricht zu überbringen. Sicher würden ihnen dabei die familiären Verhältnisse von Ottmar Kinker klarer werden.
    Schon die Klingelschilder am Wohnblock des Sechsparteienhauses gaben ein wenig mehr Aufschluss. Die mittlere Klingel der rechten Reihe war für Ottmar Kinkers Wohnung bestimmt. Der Name auf dem Karton, der hinter dem Plastikfensterchen steckte, war in serifenloser Schrift von einem Drucker ausgegeben worden. Unter Ottmar Kinkers Klingel fand sich die von Meta und Helmtraud Kinker. Deren Namen waren mit einem blauen Kugelschreiber handschriftlich und in ungleichmäßigen Druckbuchstaben hinterlassen worden. Es war das einzige Klingelschild, das gestalterisch aus der Rolle fiel. Der Karton war grau, hatte Schlieren und sah schäbig aus.
    Lydia drückte entschlossen den Klingelknopf, und beide vernahmen ein unangenehm hohes Rasseln, welches der Dramatik ihres Besuches angemessen schien. Lydia Naber hätte ein sanftes Dingdong bevorzugt und fragte sich, wie man sich einen solchen Ton antun konnte. Vermutlich nur dann, wenn er nicht oft erschallte.
    Kurz darauf surrte der Türöffner, und sie traten in einen im umfassenden Sinne kühlen und jedes Geräusch reflektierenden Treppenaufgang, der nach deutscher Hygiene roch. Es musste die Wohnung im Hochparterre links sein. Langsam stiegen sie die drei Stufen hinauf und warteten, dass die Wohnungstür geöffnet wurde, was auch unmittelbar geschah.
    Eine Frau stand in der Tür und starrte die beiden wortlos und abweisend an. Sie war groß gewachsen, und ihre Schlaksigkeit eröffnete sich erst auf den zweiten Blick, denn sie hatte breite Schultern und breite Hüften. Die kurzen grauen Haare trug sie ohne erkennbare Frisur, eher so, als ob sie ihre Haare nur hatte, weil sie eben wuchsen. Eigentlich hätte sie sportlich und frisch aussehen können, doch die Ausstrahlung ihres Gesichts wischte alle anderen Eindrücke beiseite. Es war, als würde die Erdanziehung versuchen, alles an diesem Gesicht an sich bringen. Augen, Wangen, Mundwinkel, kurz alles, was ein Gesicht ausmachte, strebte auf unergründliche Weise dem Boden zu.
    Schielin sah sich der Gestalt gewordenen Missmut gegenüber. Aus schmalen graugrünen Augen fixierte sie die beiden Unbekannten, die ihr gegenüberstanden.
    Lydia schwieg beharrlich, und nach einigen Sekunden ergriff Schielin das Wort und teilte ihr mit, dass sie von der Polizei kämen. An der Tür tat sich nichts, nur der Blick wechselte jetzt vom bisher Abweisenden ins offen Unfreundliche. Zwar bemühte sich Conrad Schielin in professioneller Weise, im Umgang mit Menschen frei von Vorbehalten zu sein, doch dies hier war eine jener Begegnungen, in denen er spürte, wie sich sein Innerstes von seinem Gegenüber abwendete. Die Frau war ihm unsympathisch. Dennoch wollte er das, was sie zu sagen hatten, nicht im Gang besprechen, wo jedes noch so leise gesprochene Wort bis hinauf in den dritten Stock widerhallte.
    Er ging einen Schritt auf die Tür zu und sprach halblaut, aber eindringlich: »Frau Kinker, Sie sind doch Frau Kinker, oder? Können wir bitte hereinkommen. Wir müssen mit Ihnen sprechen. Es geht um Ihren Bruder.«
    »Was ist mit meinem Bruder?«, fragte sie

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