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Pulverturm

Pulverturm

Titel: Pulverturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Maria Soedher
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genau, wo welche Tasse zu stehen hat, und wenn ein Tellerchen kaputt geht, dann kauft sie es nach. Der hatte hier nichts zu melden. Sage ich dir jetzt einfach mal so. Weibliche Intuition.«
    »Wohl eher ein Vorurteil.«
    »Absolut, mein Lieber, und ich stehe dazu. Wir wissen noch nicht viel, aber so viel scheint mir schon klar geworden zu sein. Ottmar Kinker hatte mit den beiden da keine große Freude am Leben, das kannst du mir glauben. Der tut mir am meisten leid.«
    »Es gehören immer zwei dazu, und leidtun muss er dir nicht mehr«, entgegnete Schielin, um sie mit dieser Phrase zu provozieren. Dann öffnete er die Tür, die sie in den Wohnraum brachte.
    »Stimmt. Es gehören immer zwei dazu. Nur dass Ottmar Kinker es nicht mit einer, sondern mit zweien zu tun hatte, und jede von denen ist ein Kaliber für sich. Mein lieber Mann.«
    »Die scheinen dich ja ganz schön beeindruckt zu haben.«
    Sie blieb stehen, schaute sich kurz um, und meinte dann: »Du wirst mir doch nicht erzählen wollen, dass du nicht gemerkt hast, wie verbittert die beiden sind.«
    Schielin sah sich ebenfalls um. »Nein, keine Sorge. Ich fand sie auch nicht sonderlich sympathisch, dachte aber dann, ich sollte mir lieber kein so subjektives Urteil schon zu Beginn machen. Aber nachdem du so heftig reagierst, stelle ich mir eine andere Frage.«
    »Und die wäre?«
    »Ottmar Kinker war ja schließlich der Mann hier im Haus, gleich, wie die beiden ihn traktiert haben mögen. Was ist der Grund, dass sie so kalt bleiben, dass diese Nachricht so gar nicht ihr Innerstes erreicht?«
    Lydia Naber verzog das Gesicht und sah sich nochmals um. »Also die Antwort darauf finden wir hier wohl nicht.«
    Sie standen in einem großen L-förmigen Wohnraum, mit breiter Fensterfront nach Süden und direktem Zugang auf einen langen Balkon. Offensichtlich hatte man aus der ehemals zweiräumigen Wohnung durch die Zusammenlegung der beiden Räume eine großzügige Einzimmerwohnung geschaffen. Nach links zweigte ein Durchgang in die Küche ab. Bad und Toilette erreichte man über den düsteren Vorraum.
    Es wäre eigentlich eine schöne Wohnung gewesen, mit fantastischem Blick zu den Bergen. Das wohnlichste war noch der rosafarbene Velours. Im abzweigenden hinteren Raum standen ein breiter Schrank und ein Bett. Im vorderen Tei des großen Zimmers verloren sich zwei alte Bücherregale. Daneben standen ein Sessel und eine Couch. Im Bilderrahmen über der Couch hing ein alter Stich, der die Insel Lindau zeigte. In einem der Regale befand sich ein Kassettenrekorder. In der Küche stand ein Tisch – und wenn bisher nicht deutlich geworden war, was diese Wohnung ausstrahlte, so wurde es hier an diesem Tisch deutlich. Ein Stuhl stand ordentlich an die Tischplatte gerückt. Ein Stuhl. Es war wie ein Schrei. Nichts konnte Einsamkeit deutlicher ausdrücken, einem näher ans Herz bringen, als dieser eine, einsame Stuhl. Denn wer immer auf diesem Stuhl saß, musste einsam sein und diese Einsamkeit zutiefst empfinden. Wieso stand da nur dieser eine Stuhl? Ein zweiter hätte gut Platz gehabt und zudem etwas in diese Wohnung getragen, was gut gewesen wäre: Hoffnung und die Aussicht, jemanden gegenübersitzen zu haben. Aber es gab nur diesen einen Stuhl.
    Sie gingen langsam durch den Raum, betrachteten stumm, was in den Regalen lag.
    Lydia Naber lehnte sich in den Türrahmen zur Küche und sagte: »Da meint man immer, es sei so traurig, wenn man die Toten so da liegen sieht. Aber dann kommst du in eine Wohnung, die so perfekt sauber und ordentlich ist, dass es einem grausen mag, und findest einen Tisch und einen Stuhl. Das ist so was von traurig.«
    Schielin, der ähnlich empfand, betrachtete den Stuhl eine Weile und meinte dann: »Es kann aber auch ganz anders sein.«
    Lydia Naber sah ihn an und verzog das Gesicht. »Ach? Was Existentialistisches, hä? Mit Lebensbejahung jedenfalls hat diese Spärlichkeit da sicher nichts zu tun, und von einem Wohnkonzept der Leere zu sprechen, scheint mir auch weit entfernt zu liegen.«
    »Schutz«, sage Schielin.
    »Schutz?«, lachte sie ungläubig.
    Er nickte ernst und deutete auf den Tisch. »Schwesterchen und Mama konnten sich hier nicht breitmachen, oder? Nur ein Stuhl.«
    Er drehte sich um und ging zu den Regalen. Es waren überwiegend alte, gebundene Bücher. Klassiker, die schon in den Fünfzigerjahren Klassiker gewesen waren. Vereinzelt dazwischen ein paar Taschenbücher. Aber kein aktuelles Buch. Nichts. Es gab zudem keinen Fernseher, keine

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