Puppenbraut
Leid der versammelten Personen.
Sie sah ein kleines Mädchen von etwa vier Jahren darauf, das vor einem riesigen Aquarium stand. Vermutlich war die Kleine im Zoo mit ihren Eltern, die auf dem Foto nicht abgebildet waren. Zoey Andrews schaute aber nicht auf die Fische, die einfach gewöhnlich umherschwammen. Sie hatte ihre kleine Hand auf die Glasscheibe in Höhe ihrer Augen gelegt und betrachtete ihre Finger ganz intensiv. Das Mädchen war so in ihrer Welt versunken, dass es beim Betrachter gemischte Gefühle auslöste. Es wurde nicht wirklich klar, ob man dabei Zeuge eines lediglich anatomischen Interesses wurde, oder ob man der Szene eine philosophische Bedeutung beimessen sollte.
Doreen wurde auch schlagartig klar, weshalb die Mutter genau dieses Bild gewählt hatte. Es zeigte ihr kleines Baby so verletzlich, wie sie es selbst sah. Andererseits wirkte die Kleine auf Ree doch irgendwie erwachsen - so isoliert von einem Raum voller Lebewesen und konzentriert auf das eigene „Ich“. Begierig schnappte sie nach Luft, doch ihre Kehle schnürte sich immer nur noch mehr zusammen. Vorsichtshalber griff sie in ihre Jackentasche. Mit einem Sprühstoß ihres Inhalators direkt in die Mundhöhle verschaffte sich Doreen schnell ein befreiendes Gefühl.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie, als die Erlösung ihre Lunge erreichte. ‘Diese Attacken nehmen in letzter Zeit rapide zu. Ich sollte kürzertreten!’, ging es ihr durch den Kopf.
„Helfen Sie mir dabei, meine Tochter zu finden!“, krächzte die Frau und verfiel erneut ins Schluchzen. Sie sah dabei fürchterlich aus. Ihre wunderschön gemachten, künstlichen Fingernägel und ihre teure Kleidung standen im grotesken Gegenteil zu dem von Sorgen gezeichneten Gesicht. Zweifelsohne war Amy Andrews vor dem Vorfall eine begehrenswerte Frau, die stets ihr makelloses Äußeres im Blick behielt. Nur so lange, bis das Leben ihr das verwehrte, was für sie existenziell war.
„Wir wollen an die Öffentlichkeit“, übernahm Amys Begleiter das Wort. ‘Zoeys Vater, Larry Andrews‘, erinnerte sich Doreen Bertani. Ihr Gedächtnis, das ihr immer einen großen Vorteil bei ihrer Arbeit bot, war unaufgefordert parat. Die Namen speicherte sie automatisch ab.
„Ich kann das nicht!“ Doreens Stimme klang schwächer, als sie es beabsichtigte. Zweifel überkamen sie. Ein neues Gefühl, das sie in ihrer journalistischen Arbeit noch nicht kannte. „Bitte nehmen Sie das Bild wieder zurück!“ Sie reichte das Stück bedruckter Pappe weiter, als wäre es unangenehm heiß. Der Mann winkte ab. Beide verweigerten es, als würden sie sie damit um Gnade anbetteln. Um diesen armen Menschen einen Gefallen zu tun, versteckte Doreen das Bild in ihrer Tasche, fest entschlossen, es zu Hause wegzuschmeißen. Zu erdrückend war ihr die Situation.
„Wir brauchen Ihre Hilfe!“, kreischte Amy Andrews plötzlich und wurde von der sachlichen Stimme ihres Noch-Ehemannes unterbrochen, der das Wort übernahm: „Wir wissen, was Sie in einem Ihrer Fälle getan haben! Nur dank Ihnen wurde damals der Fall von Menschenhandel überhaupt aufgeklärt. Das haben wir in den Nachrichten gesehen. Sie sind unsere letzte Rettung!“ Er spielte auf den Fall an, der Doreen vor Jahren über Nacht von einer Berufsanfängerin zur gefragten Journalistin katapultiert hatte. Mehr als das Können spielte damals allerdings der Zufall eine Rolle. Diese Tatsache hatte sie irgendwann aufgehört aufzuklären. Die Menschen wollten eine Heldin haben, und sie bekamen eine. Mit einem fest bezahlten Job. Zu dieser Zeit lernte sie auch ihre neue Liebe, die damalige psychologische Sachverständige Raffaella Bertani kennen.
„Bitte, helfen Sie uns!“, flehte der Vater erneut.
„Ich kann Ihnen nicht helfen! Auch wenn ich wollte. Ich bin kein Cop, sondern Journalistin. Was könnte ich mehr tun als das, was das NYPD noch nicht unternommen hat?“
„Greifen Sie dieses Monster in der Öffentlichkeit an! Vielleicht will er einfach nur Geld von uns? Wir werden ihm alles geben! Nur Zoey soll er wieder nach Hause bringen!“, ergriff Amy Andrews erneut das Wort.
„Das ist aber ein Fall für die Cops! Nicht für die Zeitung, Frau Andrews. Man muss dabei behutsam vorgehen! Ich fürchte, ich habe nicht genug Erfahrung!“, versuchte sie, einen Restwiderstand zu leisten.
„Heute... Als ich nach vielleicht einer Stunde Schlaf in der Nacht aufstand, wollte ich zu meiner Tochter ins Kinderzimmer gehen, um sie zu
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