Puppenbraut
diesem Augenblick verband die Mütter ein einziger Gedanke, der Cassy betraf: ‘Haben wir genügend Zeit für unser Kind?’
„Aber das werden doch viele der vermissten Kinder gemeinsam haben. Wieso sollte Zoey das Schicksal mit den anderen Fällen teilen?“
„Zoey ist zerrissen zwischen zwei Eltern. Die Situation ist für Scheidungskinder nie leicht. In ihrem Fall gibt es zum Einen die fürsorgliche, doch sehr auf ihr Äußeres fixierte Mutter. Offenbar versuchte sie vor der Entführung, nach ihrer missglückten Beziehung mit Larry, mehr Abwechslung in ihr Leben zu bringen. Dadurch fokussierte sie sich kurzzeitig auf ihre eigene Person, weshalb Zoey sehr viele Freiheiten bekam. Ich könnte mir vorstellen, dass diese Frau in der Ehe einige Probleme geschluckt hat. Bis es mal zu viel wurde. Jetzt war sie dabei, sich selbst zu definieren.“
„Was denkst du über den Vater, Larry Andrews?“
„Genau. Zum Anderen gibt es Larry. Der Mann scheint sehr beherrscht zu sein. Er hat eine Fassade aufgebaut, die schwer zu reißen ist. Aus seinem Verhalten kann ich nur wenige Rückschlüsse ziehen. Wenn er es zulässt, werde ich in einer Therapie versuchen, diese Fassade zu durchbrechen! Die Eltern leiden beide sehr unter dem Verlust ihrer Tochter. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass die beiden etwas mit der Entführung zu tun haben könnten. Mein Bauchgefühl hat mir bisher gute Dienste erwiesen.“
„Stammen nicht zu fast 80% die Täter aus dem Umkreis des Opfers?“ Doreen richtete sich wieder auf. „Könnte in dem Fall doch auch sein, oder?“ Irgendwie gefiel ihr die Version besser als die von einem kidnappenden, freilaufenden Killer in Brooklyn.
„Du kannst besser noch mal recherchieren, doch dahinter steckt mehr, sagt mein Informant. Die höheren Kreise ziehen zu Recht die Verbindung zu den anderen Fällen. Sehr viele Einzelheiten werden auch vor dem NYPD geheim gehalten. Da wäre zum Beispiel auch der Zeitpunkt. Beide Fälle haben exakt ein Jahr Abstand zueinander.“
„Zufall!“ Doreen mochte ihre Rolle des „Advocatus Diaboli“ bei ihren Gesprächen mit Raffaella, die die Arbeit betrafen. „Wie viele Taten werden zur gleichen Zeit in den Staaten verübt? Unzählige!“
„Solche mit einer Kindesentführung musst du dann in Betracht ziehen. Vielleicht hast du recht. Vielleicht aber auch nicht! Ich glaube nicht daran, dass der Täter nach dem zweiten Opfer freiwillig aufgehört hat! Aber gut, vielleicht ist ihm etwas zugestoßen...“ Raffaella nahm die nächste Frage vorweg. „Die Entführungsfälle passierten oft Müttern, die sich an einem Punkt befanden, an dem sie ihre Beziehung neu zu definieren begannen. Gleiches Muster also.“
Doreen schaute jetzt verdutzt. „Ich bin beeindruckt, du hast unheimlich gute Informationen über den Fall. Mir dreht sich schon der Magen um, wenn ich nur daran denke. Was muss das für ein Monster sein? Gott im Himmel, Cassy ist in drei Jahren auch elf! Warum sollte man mit diesem Fall an die Öffentlichkeit? Wenn rauskommt, dass der Tipp für die Eltern, sich an mich zu wenden, von dir kam, dann sind wir beide geliefert. Bei Zoeys Entführung ist es anders als damals bei dem Menschenhandel! Hier geht es um ein kleines, lebendiges Kind mit einem Namen. Nicht um namenlose Opfer, die ich nie gesehen hatte, bevor sie befreit wurden. Herrgott noch mal, ich kann das nicht!“ Doreen fühlte, wie bei der bloßen Verbindung ihres gemeinsamen Kindes mit Zoeys Verschwinden Angst in ihr aufstieg.
Damals verschaffte ihr der Fall über die zugegebenermaßen gut recherchierten Hintergründe einen Berufseinstieg als seriöse Journalistin. Den Tätern bescherte es einen langen Aufenthalt in der Gefängniszelle. Also eine klassische „Win-win-Situation“: Ruhm gegen eine bessere Welt.
Doch im Fall des verschwundenen Mädchens gestaltete sich die Lage heikel. Wollte sie mit einem gut recherchierten Artikel an ihre Quellen herantreten und den Fall publik machen, würde sie dieses Kind vielleicht retten, oder vielleicht sein Leben für immer auslöschen. Die Verteilung der Chancen kannte sie nicht.
Wer war das Opfer, auf dessen Schicksal sie Einfluss nehmen sollte? Ein kleines Mädchen, das als Baby eine liebende Mutter wickelte, streichelte und spazieren fuhr, damit es genug frische, gesunde Luft bekam. Eine etwas größere Prinzessin, der die Mutter eine ‘Gutenachtgeschichte’ vorlas, damit die Monster keine Chancen hatten, in ihre Träume
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