Puppenfluch
Lichtkegel vor der Baracke trat, wurde Siri klar, was ihr Unterbewusstsein schon vor Sekunden erfasst hatte.
Sie kannte diese Schritte.
Es waren dieselben, die sie auf der Brücke gehört hatte, als sie im Kanal zu ertrinken drohte.
Es waren die Schritte, die sich entfernt und sie dem Tod überlassen hatten.
Und jetzt war Elena da.
17
»Siri. Wie schön, dass du kommen konntest.«
Elena lächelte und legte ihren Kopf ein klein wenig schief. Ihre Augen waren tief und schwarz und ihre Gesichtszüge sahen irgendwie verändert aus. Siri hatte das Gefühl, sie nicht wirklich zu erkennen, obwohl sie ihr schon öfter begegnet war. Diese Elena war nicht Arons Mutter, sondern eine Fremde.
Siri versuchte fieberhaft nachzudenken. Wusste Elena, was Siri wusste? Wo war Aron? Konnte Siri die Unwissende spielen und die Polizei alarmieren? Und die wichtigste Frage von allen: warum? Warum hatte Elena ihr im Kanal nicht geholfen? Hatte sie von Martins Geschäften gewusst? War sie mit ihm zusammen in die Sache verwickelt?
Siri zwang sich, auf der Treppe sitzen zu bleiben. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und weggerannt, nur wie weit wäre sie mit ihrem wehen Knie gekommen?
Das Handy in Siris Hand gab ein paar kurze Signaltöne von sich. Eine SMS war eingetrudelt. Ganz automatisch warf sie einen prüfenden Blick auf das Display. »Ruf mich sofort an!!!«
Von Henriks Handy. Mama natürlich. Siri steckte ihr Handy in die Tasche zurück.
»Wo ist Aron?«, fragte sie heiser.
»Wir sollten Aron aus dieser Angelegenheit lieber raushalten«, sagte Elena sanft. »Das hier geht nur uns beide etwas an, Siri. Nicht wahr?«
Siri atmete flach und stoßweise. Vor ihr stand eine Mörderin, eine gemeingefährliche Verrückte. Jetzt hieß es reden, Zeit gewinnen, obwohl sich in ihrem Kopf alles drehte und ihr überhaupt nichts einfallen wollte, was sie sagen könnte.
Kleine Schneekristalle legten sich funkelnd auf Elenas Haar.
»Wie bitte?«, sagte Siri. »Ich verstehe nicht, wovon du sprichst. Ich bin hergekommen, weil du gesagt hast, dass Aron hier wäre, aber offenbar ist das nicht der Fall ...«
Elena schob ihre Hände in die Taschen und betrachtete Siri unverändert, als wäre sie eine Maus in den Fängen einer Katze.
»Oh, ja. Kann sein, dass ich das gesagt habe«, erwiderte Elena, »aber weißt du, Siri, jetzt, wo die Karten auf dem Tisch liegen, ist es wohl nicht so schwer zu verstehen, dass ich dich nicht in Arons Nähe haben will. Schließlich hast du eine gewisse Tendenz, unschuldige Personen an die Polizei zu liefern.«
Es dauerte eine Sekunde oder zwei, ehe Siri begriff, was Elena mit »unschuldig« meinte. Eine »unschuldige Person an die Polizei zu liefern«. Der Einzige, der ihretwegen festgenommen worden war, war Martin.Trotz der Angst gewann ihre Neugier die Oberhand. Siri sah Elena an und las die Antwort in ihren Augen ab.
»Also ist Martin unschuldig«, sagte sie leise und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Wenn Martin nicht der Täter gewesen war, dann musste es jemand anderes gewesen sein.
»Natürlich ist er das«, antwortete Elena.
Sie kräuselte die Oberlippe: »Glaubst du, er wäre in der Lage, so ein Geschäft zu organisieren? Martin?«
Sie lachte auf und ihr Lachen schmerzte in Siris Ohren.
»Aber wie kann das sein? In seinem Kalender stand doch ...«
»Was stand in seinem Kalender?«, fragte Elena ungeduldig.
»Da stand, wann die Mädchen kommen sollten«, sagte Siri leise und verwirrt.
Elena betrachtete sie überrascht und Siri konnte sehen, wie sie nachdachte.
»Ja«, wiederholte Siri beharrlich. »Da stand in großen roten Buchstaben Lieferung «.
Jetzt lachte Elena.
»Ach so! Jetzt weiß ich, was du meinst«, sagte sie. »Nein, das bedeutet nur, dass Martin eine große Lieferung für die Firma erwartet. An diesen Abenden arbeiten sie bis spät in die Nacht und Martin ist sobeschäftigt, dass er sich nicht fragt, was ich tue. Und nachdem Danne die Sachen in die anderen Lager und Hallen verteilt, versuchen wir für gewöhnlich, seine Fahrten mit den Mädchen zu verbinden.«
»Und Olga?«
Elena musterte sie neugierig.
»Wie gut du über alles informiert bist, Siri. Wir haben Olga gestoppt, als es mit Irina schiefging. Man könnte sagen, bis auf Weiteres liegen die Geschäfte auf Eis.«
»Dann lässt du Martin im Gefängnis schmoren, obwohl du es warst, die die Mädchen hergeholt hat?«
So. Jetzt war es gesagt. Das Geheimnis war keines mehr. Nicht Martin war der Schuldige, sondern
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