Purpurdämmern (German Edition)
für einen Vierzehnjährigen. Das Ballkleid zumindest schien ihn zu beeindrucken. Oder der Ausschnitt, wer konnte das schon so genau sagen. Bei jeder Drehung schwang ihr der Rocksaum um die Knöchel, dass die Fliehkraft drohte, sie zu Fall zu bringen. Die eng geschnürte Taille quetschte ihr den Atem ab. Und Santino, der Verräter, quittierte ihre Hilfe suchenden Blicke mit einem amüsierten Lächeln.
Doch dann passierte es tatsächlich und der beschwerte Stoff schlug ihr von hinten in die Fersen. Sie stolperte. Die Welt um sie begann zu schwanken.
Erst verzögert begriff sie, dass der Boden sich neigte.
Der Schrei einer Frau explodierte in die Harfenklänge und brachte die Musik abrupt zum Verstummen. Für einen Augenblick verschwommen alle Konturen.
Dann stürzte die Realität mit einem Ruck zurück in die Angeln. In die entstehende Stille hinein klirrte eine Silberplatte, die auf dem polierten Alabasterboden zerschellte. Es war der Glockenschlag, der das Inferno entfesselte.
Plötzlich brüllten alle durcheinander. Eine Woge von Menschen wälzte sich zu den offenen Balkonen, die übrigen Gäste strömten auf die hohen Doppeltüren zu. Binnen Sekunden brach die Hölle los. Marielle begriff nicht, was eigentlich passiert war, nur dass sie sich den schwankenden Boden nicht eingebildet hatte.
Ein paar Steinchen trafen sie am Kopf und lenkten ihre Aufmerksamkeit zur Decke. Da zog sich ein Riss durch den bemalten Stuck, der vorher nicht da gewesen war.
Die Neugier stachelte sie an, sich zum nächstliegenden Balkon durchzukämpfen und nachzusehen, was alle so in Schrecken versetzte. Aber das Gedränge war so groß, dass sie sich nur noch von der Menge mitziehen lassen konnte, ohne die Richtung zu bestimmen.
Newan war verschwunden. Von hinten baute sich mehr Druck auf, ein Dutzend königlicher Gardisten tauchte auf und umringte sie wie eine menschliche Mauer.
»Hey«, sie taumelte gegen einen in weißes Uniformtuch gehüllten Rücken, »was soll das werden? Lasst mich durch!«
Das Gesicht des Offiziers war eine angespannte Maske. »Prinzessin Marielle, wir bringen Euch hier raus.«
»Was war das gerade?«
»Das versuchen wir herauszufinden. Bleibt einfach in unserer Mitte.«
Nessa, fiel es ihr siedend heiß ein. Wo steckte die Katze?
»Nessa!«, brüllte sie.
Sie lauschte auf die Stimme in ihrem Kopf und verspürte einen Anflug Panik, als die Stille anhielt.
»Nessa!«
»Prinzessin –«, drängte der Offizier.
Von den Balkonen her schnitt ein neuer Schrei durch das Tohuwabohu und lief in den Saal hinein wie eine Lawine, verstärkt von immer mehr Kehlen. Der Ring aus Gardisten wurde zur fragilen Barriere inmitten eines Orkans. Hysterische Menschen hasteten durcheinander, schlugen aufeinander ein und trampelten über die Unglücklichen hinweg, die gefallen waren.
»Zurück«, tönte der Offizier. »Zurück, verdammt, oder es fließt Blut!«
Nicht, dass es irgendjemanden scherte. Marielle schwitzte in ihrem sperrigen Ballkleid. Ihr war übel. Doch die hohen Türen schienen meilenweit entfernt. Hektisch blickte sie sich um, während die Gardisten Anstalten machten, ihre Schwerter zu ziehen.
»Da rüber!«, befahl sie und deutete auf einen Alkoven, vier Säulen mit einem kristallenen Baldachin.
Der Blick des Offiziers flog zwischen der Wand und dem Ausgang hin und her.
»Los«, schrie sie ihn an. »Macht schon! Das ist ein Befehl!«
Unendlich langsam setzten sie sich in Bewegung. Die Luft war dick von Angstschweiß und verschüttetem Wein. Und dann roch sie Rauch. Sie fragte sich, ob es ein Attentat gegeben hatte. Was war auf den Balkonen geschehen, um eine solche Panik auszulösen? Ein junger Mann mit zerzaustem Kopfputz taumelte gegen die Gardisten. Der Offizier schickte ihn mit einem Faustschlag zu Boden.
»Zurück!«, brüllte er unablässig. »Macht Platz für die Prinzessin!«
Direkt vor ihnen entspann sich ein Handgemenge. Schimpfworte mischten sich ins Gebrüll. Ein Glück nur, dass jeder Gast beim Betreten des Tíraphal seine Waffen abgeben musste.
Der Alkoven war nun so nah, dass sie die Hand nach den Säulen ausstrecken konnte.
»Schirmt die Front ab«, befahl sie den Gardisten.
Es war leicht, eine Sache von Sekunden. Sie brauchte nur eine Form. Das Gewebe des Nebelsee-Reiches war ihr so vertraut, dass es fast von selbst in die Konturen floss, die sie vorzeichnete. Sie schloss halb die Augen, sodass die sichtbaren Dinge an Schärfe verloren und sie
durch sie hindurch
blickte. Der Äther
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