Purpurdämmern (German Edition)
in die weite Kurve, die am Depot vorbeiführte. Beim Anblick der Ruine fiel ihm siedend heiß ein, dass er am Vorabend vergessen hatte, die Blume zurück in das Holzkästchen zu legen. Durch die zerbrochenen Fensterscheiben verirrten sich ab und zu Vögel ins Penthouse. Was, wenn einer davon die kostbare Blüte stahl? Mom erwartete ihn ohnehin erst in ein paar Stunden zurück, und er war auch nicht wild darauf, mit ihr zu reden.
Er bremste, stieg ab und schob sein Fahrrad zwischen den betongesäumten Rasenrabatten hindurch zum Eingang. Früher hatten sie hier Blumen gepflanzt, doch jetzt wucherte nur gelbes Gestrüpp in den Einfassungen. Der Himmel begann aufzuklaren, azurblaue Flecken schimmerten im Grau. Sonne brach zwischen den Wolken hervor.
Es kam ihm vor wie ein spöttischer Fingerzeig. Die Welt dreht sich weiter, Ken O’Neill. Die Welt schert sich nicht darum, ob du ein Highschool-Diplom kriegst oder nicht. Der Welt ist es vollkommen egal, wenn du deinem Dad in die Gosse folgst.
Er hob das Fahrrad die drei Stufen hinauf und tauchte in die schattige Bahnhofshalle. Sofort hüllte der vertraute Geruch ihn ein. Alter Stein und Herbstlaub und leiser Verfall. Taubengefieder, Katzenpisse. Zigarettenrauch, aber der war frisch. Ken hob den Kopf und lauschte.
Jemand war hier gewesen, vor ganz kurzer Zeit. Oder schlich noch irgendwo herum. An sich nichts Ungewöhnliches, aber er wollte nicht beobachtet werden, wenn er den Fahrstuhlschacht hochkletterte.
Nichts. Kein Laut. Nur das Rascheln der Tauben unter dem Dach.
Er entspannte sich wieder und schob das Fahrrad ins alte Café. In einer Nische kettete er es an und kehrte in die Halle zurück. Noch einmal blickte er sich um.
»Hallo?«, rief er halblaut. »Hallo?«
Ein schwaches Echo rollte von den Wänden zurück und verhallte. Nichts.
Trotzdem prickelte es in seinem Nacken, als beobachteten ihn ein Dutzend Augenpaare. Sein Bauchgefühl schrie, dass etwas nicht stimmte. Auf halber Strecke zum Fahrstuhlschacht hielt er inne und drehte sich noch einmal um.
Sonne fiel durch die drei riesigen Bogenfenster, die die Front einnahmen. Das zerstörte Glas malte bizarre Schattenmuster auf den Boden. Ein feines Knirschen fiel in die Stille. Nicht laut, aber hörbar. Und es klang nicht nach Tauben oder Ratten, sondern nach Sand unter einer Stiefelsohle. Ein Penner, der sich in einer der unteren Etagen eingenistet hatte?
Er lief noch ein Stück weiter und spähte hinter sämtliche Bögen. Kurz überlegte er, sein Fahrrad zu Hause abzustellen, dann wieder herzukommen. Wäre blöd, wenn er sich das klauen ließe, während er oben im Penthouse hockte.
Er musste ja nicht ins Haus gehen. Er konnte sich schnell in den Hof schleichen, es in den Schuppen stellen und dann zurückkehren zum Depot.
Er wandte sich nach rechts, passierte einen Säulenbogen – und rannte geradewegs in ein Mädchen hinein. Instinktiv hielt er sie fest, während er selbst noch darum kämpfte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Entschuldigung«, murmelte er völlig perplex und ließ sie los.
Zum Teufel, wo kam sie her? Seine Pupillen waren geweitet vom grellen Sonnenlicht, nicht an die Schatten gewöhnt. Er hatte sie glatt übersehen.
»Entschuldigung!«, sagte er noch einmal.
Ihr Duft brachte ihn aus dem Konzept. Wie frisch gebackene Kekse, das rührte an eine Erinnerung tief unten. Weihnachten? Ein Kindergeburtstag? Noch während er danach suchte, realisierte ein anderer Teil von ihm ihre merkwürdige Kleidung.
Sie trug eine eng anliegende Hose aus hellbraunem Wildleder. Stiefel, die ihr bis zu den Knien reichten, aber ohne Absatz, und eine kurze Jacke, ebenfalls aus Wildleder, cremegelb, auf den Schultern mit einem Mopp weißer Federn besetzt. Darunter blitzte dunkelrot ein T-Shirt hervor – das einzige Kleidungsstück, das einigermaßen normal aussah. Über der Schulter hing ein Rucksack und an ihre Hüfte schmiegte sich, er traute seinen Augen kaum, ein Dolch in einer protzig verzierten Metallscheide. Das Ding war so lang wie sein Unterarm und konnte eigentlich nur eine Attrappe sein. Sie sah aus, als käme sie direkt von einem Maskenball. Oder drehten die hier in der Nähe einen Film?
»Kein Problem.« Sie lächelte ihn an. Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Meine Güte, sie sah aus wie –
Ihm fiel kein passender Vergleich ein. Einfach überwältigend. Ein unwirklich süßes Gesicht mit einer Stupsnase, weißblonde Locken mit einem bläulichen Schimmer und
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