Purpurdämmern (German Edition)
mit einem Schwert gesehen zu haben, außer zu zeremoniellen Anlässen.
Sie wusste nicht, wie alt ihr Vater wirklich war. Er besaß die alterslosen Züge eines Fayeí, der vierzig oder vierhundert Jahre gelebt haben konnte. Eine glatte, marmorne Schönheit, in die das Leben seine Spuren gegraben hatte. Sein Haar war hell wie Silber und zu einem Zopf geflochten, der ihm bis hinab zum Gürtel seiner Tunika reichte. Seine Augen glichen ihren eigenen, amethystfarben und gefleckt mit goldenen Sprenkeln. Eine abgründige Trauer wiegte sich darin, die nie ganz verschwand, nicht einmal, wenn er lachte.
»Marielle.« Sein Lächeln wirkte hölzern und verbarg die Anspannung nicht. »Ich bin froh, dass du wohlauf bist.«
Wachsam beobachtete sie, wie er sich einen Sessel zurechtschob und sich hineinsinken ließ, als lastete die Schwere einer ganzen Welt auf seinen Schultern. Und das tat sie ja auch. Marielle war nicht erpicht darauf, diese Bürde zu übernehmen.
»Der Spalt –«, begann er.
»Ich habe ihn gesehen.«
»Es tut mir leid, dass der Ball in diesem Chaos enden musste. Ich fürchte, das hat kein gutes Licht auf die bevorstehende Vereinigung unserer Städte geworfen.«
Ein schwacher Hoffnungsfunke keimte in ihr auf. Trafen die Tuatha Avalâín Anstalten, die Hochzeit abzublasen? Hatte sie es am Ende geschafft, Prinz Newan so einzuschüchtern, dass er einen Rückzieher machte? Sarrakhan, das wäre zu gut, um wahr zu sein!
»Ich komme gerade aus einer Unterredung mit den Botschaftern der Tuatha Avalâín und wir sind uns einig, dass wir rasch ein Zeichen setzen müssen, damit die Hoffnung in diese Verbindung nicht erschüttert wird.« Eoghan legte die langen, schlanken Finger gegeneinander. Seine Nägel schimmerten perlmuttfarben. Er trug nur einen einzigen Ring. Das Eheband, das er auch nach dem Tod ihrer Mutter nie abgelegt hatte. Dieser Frau, an die sie sich nicht erinnerte, weil sie kaum zwei Jahre alt gewesen war, als Königin Noreen in die Glasgärten gegangen war.
»Hoffnung?«, fragte sie argwöhnisch.
»Gewisse Kräfte wollen die Ehe verhindern. Selbstgerechte, fanatische Kräfte, die nicht begreifen, dass die Existenz unserer Welt auf dem Spiel steht. Die Werte, die sie beschützen wollen, werden bedeutungslos sein, wenn die Nebelsee-Dimension auseinanderbricht. Sie schmieden politische Ränke, von denen du dir –«
»Moment«, unterbrach sie ihn. »Geht es dabei vielleicht um verwässerte Blutlinien und minderwertiges
Zuchtmaterial
?« Sie spuckte ihm das letzte Wort wie eine Beschimpfung entgegen.
Eoghans Augen verengten sich. »Wer sagt das?«
»Der hochedle Kronprinz von Tír na Avalâín, mein zukünftiger Gemahl, der vor Entsetzen darüber, dass er eine Geringblütige heiraten soll, keinen Schlaf findet!«
»Marielle –«
»Nur, dass du es weißt!« Die Rage überfiel sie wie ein wildes Tier. Oh, es fühlte sich gut an. So gut, herauszuschreien, woran sie die letzten beiden Tage fast erstickt wäre. »Ich will nicht, dass dieser –«, tief holte sie Luft, »dieses Hamstergesicht seine feisten Hände auf mich legt! Ich lasse mich nicht von ihm schwängern, das kannst du vergessen! Ich tu’s nicht, okay? Oder willst du mich bewusstlos schlagen und festbinden, damit er mich mit Gewalt nehmen kann? Ich schwöre dir, wenn er mich anfasst, wenn er auch nur in meine Nähe kommt, schneide ich ihm die Finger ab. Und alles andere gleich mit!«
»Marielle«, wiederholte er, nun gefährlich leise. »Du vergisst dich.«
Sie zitterte, presste die Lippen zusammen. Verstand er denn nicht? Wie konnte er ihr Vater sein und nicht verstehen, was in ihr vorging?
Er stand wieder auf und machte einen Schritt auf sie zu. So dicht vor ihr überragte er sie um mehr als einen Kopf. Das Schwalbenemblem funkelte in seiner Halsgrube, einziges Zeichen seiner Königswürde. In seiner Aura verflochten sich Macht und Müdigkeit und ein verbissenes Wollen, das jede Diskussion von vornherein sinnlos erscheinen ließ. Und sie begriff, dass er, wenn er sich zwischen seiner Rolle als König der Tuatha Mórí und als ihr Vater entscheiden musste, den Weg der Pflicht gehen würde, und nicht den der Liebe.
»Wir müssen die Verlobungszeremonie abhalten, bevor Misstrauen unsere Reihen schwächt. Es wird überhastet erscheinen, aber das ist besser als die Alternative. Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass wir das Ritual des Schenkens morgen Abend in den Königlichen Gärten vollziehen. Und dann geben wir es überall in den
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