Purpurdämmern (German Edition)
Dämmer-Detroit verlassen hatte? Nein, unmöglich. Es fühlte sich falsch an. Er war ihr Freund! Er konnte nicht einfach verschwinden, wenn sie ihn am nötigsten brauchte. Sie hütete das Geheimnis seiner Existenz, seit sie als kleines Mädchen Dämmer-Detroit entdeckt hatte. Nicht einmal Santino wusste von ihm.
Vor ihnen öffnete sich eine Wiese mit kniehohem Gras, gesprenkelt mit Mohn und Margeriten. Der Sandweg mündete in eine geteerte Straße, die an der Villa vorbei zur Brücke führte. Hinter dem Fluss zeichneten sich die Silhouetten der Hochhäuser ab.
Nie zuvor war sie so tief ins Herz von Dämmer-Detroit vorgedrungen. Die Gegend wirkte verlassen. Die Brücke ruhte friedlich über der bleiernen Flut, doch Marielle bemerkte, wie die Luft um die Pfeiler flimmerte. Gespinstgeister, oder Nuukhu, wie Aan’aawenh sie nannte. Sie klumpten sich unterhalb der Querträger zusammen und stiegen auf, sobald etwas Lebendiges ihr Reich betrat.
Eine Explosion riss sie aus ihren Betrachtungen, ein dumpfes Krachen. Sie zuckte zusammen und suchte die Narbe, doch die pulsierte unverändert. Um die neuen Verästelungen waberten gelblich grüne Dunstschwaden. Dann sah sie das
Ding
hinter dem roten Ziegeldach der Villa. Vor dem Hintergrund aus Wolken und See hing etwas, das aussah wie Metalldampfschwaden. Die Oberfläche schillerte und funkelte und verzerrte die dahinterliegenden Konturen, als sei sie eine riesige Seifenblase. Für zwei Atemzüge wurde eine Landschaft darin sichtbar. Bizarr verdrehte Salzformationen, kristallisierte Wasserfälle, das Licht ein Ozean aus Gold- und Kobalttönen. Ihr blieb der Mund offen stehen. Ein Portal in den Rabenfächer? Es war im Scharlachrot schon kompliziert genug, das Gewebe auf diese Art zu durchstechen, zu einem so weit entfernten Ort. Das im Dämmerschatten zu versuchen, grenzte an Irrsinn.
Das ist … das kenne ich!,
fauchte Nessa.
Ein Blick zu Santino bestätigte Marielles Vermutung. Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Es bricht zusammen«, sagte er. »Es implodiert.«
Grillen zirpten im Gras, unbeeindruckt vom Schauspiel. Raben jagten sich über die Wiese. Die Rollläden vor den Fenstern der Villa waren herabgelassen. Hinter übermannshohem Stacheldraht parkte ein staubiger Truck mit der roten van Erlen-Schwalbe auf silbernem Grund. Ein Rolltor aus Gitterstäben versperrte die Zufahrt.
Die Blase waberte und brach an den Kanten.
»Sehen wir nach, ob jemand zu Hause ist«, sagte Santino.
Nessa sauste wie ein geölter Blitz an ihnen vorbei und sprang durch die Gitterstäbe.
Marielle starrte gebannt auf die verblassenden Konturen. Wind trieb die Farben auseinander. Nach einer Minute war der Spuk vorbei.
»Was ist van Erlen?«, fragte Ken.
»Die größte und wichtigste Handelsgesellschaft.« Marielle wandte sich ihm zu. »Ihre Karawanen bereisen alle vier Dimensionen des Spektrums und bieten exotische Waren an. Es gibt nichts im Spektrum, das die van Erlen-Händler nicht beschaffen können.«
»Ich hab das Logo noch nie gesehen. Oder geben die sich mit so etwas wie der normalen Welt nicht ab?«
»Doch«, widersprach sie. »Sie haben ein Portal in deine Sphäre. Es führt zu einem Ort namens Gizé.«
»Gizé? Die Pyramiden von Gizeh?«
»Keine Ahnung. Ich nehme immer deine Schlossruine.«
»Es heißt Depot. Das war früher ein Bahnhof, kein Schloss.«
Seine Art, ihr über den Mund zu fahren, ging ihr gegen den Strich. Da war er nicht besser als Santino.
»Dann eben Bahnhofsruine, mir doch egal.«
Santino packte zwei Gitterstäbe und spähte hindurch. »Hallo! Ist jemand da?«
Schnauben und Klirren drang hinter den Lastern hervor. Der Wind trug Stallgeruch heran. Nessa stand auf der anderen Seite und maunzte. Von irgendwoher quoll ein Schwall lästerlicher Flüche heran, gefolgt von Metallteilen, die auf Betongrund prasselten.
»Was machst du?«, wisperte Marielle.
Ich schaue mich um.
Nessas Tonfall gefiel ihr nicht. Ganz und gar nicht.
Ein Mann bog ums Fahrerhaus des Trucks, in einem fleckigen, dunkelgrünen Arbeitsoverall und einer Robbenfelljacke, die früher wohl hellgrau gewesen war. Er war groß und schwer gebaut, stoppelbärtig mit fettigen, lang über die Ohren reichenden Haaren, bei denen man nicht sagen konnte, ob sie blond oder grau waren. In einer Hand trug er ein verdrehtes Stück Metall, das entfernt an einen Schraubenschlüssel erinnerte, in der anderen eine abgesägte Schrotflinte. Nessas Anblick ließ ihn zusammenzucken. Dann hob
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