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Purpurdämmern (German Edition)

Purpurdämmern (German Edition)

Titel: Purpurdämmern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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bildete.
    Marielle stockte und drehte den Kopf. »Nessa!«
    Nicht stehen bleiben!
Nessa fauchte und plusterte ihr Fell auf, dass sie aussah wie eine grünliche Wassermelone.
Geh weiter!
    Der Pfad wurde schmaler. Santino führte sie mit weit ausgreifenden Schritten. In der linken Hand hielt er das Schwert, mit der rechten, behandschuhten hatte er die Pistole gezogen.
    Das Jammern flaute auf und ab. Ken bildete sich ein, eine Gestalt zwischen den Bäumen zu sehen, doch als er die Augen zusammenkniff, war sie verschwunden. Das Schluchzen klang wie aus einem drittklassigen Horrorfilm. Trotzdem brach ihm der Schweiß aus allen Poren. Was im Film für wohligen Schauer sorgte, ließ ihm in diesem Geisterwald die Nerven durchgehen. Zweige ragten in den Weg herein und peitschten gegen seine Schienbeine.
    »Keine Angst«, brüllte Santino, »das ist ein Spuk, weiter nichts. Lasst euch nicht einschüchtern! Bleibt dicht hinter mir.«
    Marielle stolperte erneut. Ken fing sie zum zweiten Mal auf und erntete einen dankbaren Blick.
    »Vorsicht«, stieß sie hervor.
    Eine Sekunde später blieb er selbst in der Ranke hängen. Er richtete sich gleich wieder auf, doch die Ranke hatte seinen Fuß umschlungen und kroch an seinem Knöchel empor, wie ein lebendiger, dornenbewehrter Tentakel. Ein feuriges Kribbeln schoss in seine Fingerspitzen. Mit einem Fluch riss er den Fuß hoch. Die Ranke, fett und grau, schrammte übers Leder seiner Bergstiefel. Der Ruck zerrte die Wurzeln ans Tageslicht, die über den Weg hinaus ins Unterholz reichten. Zwischen dem Laub leuchteten Scharlachblüten.
    Mama, Mama, Mama,
jammerte die Mädchenstimme. Das Schluchzen verschluckte sich und startete neu, wie eine gesprungene Schallplatte. Es klang französisch.
Maman, Maman!
Die ersten Siedler am See hatten Französisch gesprochen. Das ging Ken durch den Kopf, während er die Ranke unter der Stiefelsohle zerquetschte und Santino und Marielle nachhastete.
    Und dann
sah
er das Mädchen. Sie rannte quer durch den Wald, direkt auf ihn zu. Ein winziges Kind war es, vielleicht vier Jahre alt, mit schwarzen Locken und einem altertümlichen viktorianischen Spitzenkleidchen. Weiß leuchtete der Stoff zwischen den dunklen Stämmen und weiß ihr Gesicht und die Händchen. Ein Junge folgte ihr, ein paar Jahre älter. Die Bäume standen weit auseinander und enthüllten Mauern, die tief ins Dickicht gesunken waren. Das Blinzeln einer Fassade, Lichtreflexe auf Fensterscheiben. Schwarz verkohlte Kellerwände, bis auf den Grund verbrannt.
    Maman!
Schluchzen, tieftrauriges Wimmern, ein schrecklicher Verlust.
    »Schaut auf den Weg!«, keuchte Santino. »Nicht auf das Kind! Sie ist nicht real!«
    Ken erschrak, als ihm bewusst wurde, dass unter seinen Füßen Laub raschelte, und nicht die festgebackene Erde des Pfads. Mit einem Sprung korrigierte er die Richtung, genau in dem Moment, da etwas unbeschreiblich Großes und Klauenbewehrtes auf ihn zusprang und nur einen Fingerbreit vor seinem Gesicht zu Nebel zerplatzte. Er spürte den Ruck an seiner Lederjacke, wo eine Kralle ihn erwischte. Ein langer Riss blieb zurück, die Tasche aufgefetzt, die zweite Buchseite hing heraus. Er nahm sie, zu Tode erschrocken, und stopfte sie in die andere Tasche.
    Maman,
kreischte die Kleine. Der Junge hatte sie eingeholt und packte sie bei den Haaren. Beide stürzten sie ins Laub. Marielle blieb stehen, kreidebleich im Gesicht. »Was ist das?«
    »Weiter!« Santino stieß die Pistole ins Halfter, packte sie am Arm und zog sie mit sich. Ken fühlte sich, als würde er schlafwandeln. Der Nebel, dick wie Erbsensuppe, verklebte ihm Nase und Mund.
    Das Heulen der Spalthunde flammte neu auf und mischte sich mit dem Kinderweinen. Wie war es möglich, dass er das Schluchzen der Kleinen hörte, wo sie mit dem Gesicht voran im Laub begraben lag? Nah, so nah. Er warf einen Blick zurück. Nessa fauchte. Die Welt verschwamm zu grünen und braunen Schlieren. Das Heulen riss schlagartig ab. Stille implodierte zwischen den Bäumen. Sogar das Wimmern verstummte.
    »Zurück.« Santino sprach leise, doch Ken verstand jedes Wort. »Zieht euch ein Stück zurück und bleibt auf dem Pfad. Was auch passiert, verlasst den Pfad nicht.«
    Überlaut klickten Krallen auf dem hart gebackenen Grund. Klick, klick, klick. Ein Knurren, tief und voll, aus einer blau geäderten, mit Fellbüscheln gescheckten Brust.
    Der Spalthund hatte graubraunes Fell und war groß wie eine Dogge. Die Ohren hatte er angelegt, die Lefzen hochgezogen.

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